Das Team Bahrain-Victorious präsentiert sich in Bilbao in neuen Trikots
Tourreporter

Sicherheit im Radsport Tour de France - Schmaler Grat zwischen Spektakel und Risiko

Stand: 30.06.2023 18:53 Uhr

Die Tour de France startet am Samstag in Bilbao begleitet von einer Sicherheitsdebatte, die der Tod von Gino Mäder ausgelöst hat. Der Grat zwischen Spektakel und zu viel Risiko bleibt im Radsport jedoch schmal.

Von Michael Ostermann, Bilbao

Bilbao hat sich herausgeputzt: Der Startort für die wichtigste Radsport-Party des Jahres ist geschmückt mit gelben Fahnen und Flaggen in den baskischen Farben. Und wie das so ist, wenn ein besonderes Ereignis ansteht, haben sich auch die Gäste extra fein gemacht, einige sind sogar mit neuer Garderobe zum Grand Départ der Tour de France in die grünen Hügel des Baskenlandes gereist.

Viele Mannschaften präsentieren zum Tour-Auftakt ein neues Trikot. Auch das Team Bahrain-Victorious hat für das bedeutendste Rennen des Jahres die Arbeitskleidung geändert. Das kräftige Rot ist verschwunden. Das Trikot wird nun von überwiegend weißem Stoff geprägt, der mit einem blass-blauen Muster durchzogen ist. Kragen, Ärmel und Bund sind schwarz abgesetzt. Es war sicher nicht so geplant, aber es wirkt nun eben so, als trügen die Fahrer des Teams einen Trauerflor.

Vorfreude und emotionaler Moment bei Teampräsentation

Mittagsmagazin, 30.06.2023 14:21 Uhr

Mit der Trauer begann die Sicherheitsdebatte

Knapp zwei Wochen ist es her, dass der für Bahrain-Victorious fahrende Schweizer Radprofi Gino Mäder bei der Tour de Suisse in einer Abfahrt in eine Schlucht stürzte und einen Tag später an den Folgen des Unfalls starb. Nach der Todesnachricht spielten sich herzzerreißende Szenen ab: Tief erschütterte Radprofis, die sich weinend in den Armen lagen, Halt und Trost suchend nach dem Tod eines Kollegen.

Und schon mit der Trauer begann auch eine Debatte über die Sicherheit des Radsports, die nun auch die Tour de France in den kommenden drei Wochen begleiten wird. Am Freitag (30.06.2023) präsentierten der Radsport-Weltverband UCI, Fahrer-Gewerkschaften und die Vereinigungen der Profi-Teams ihre Vorstellungen davon, wie der Radsport sicherer werden soll.

Sportschau Tourfunk, 30.06.2023 12:51 Uhr

Unabhängige Sicherheitskommission - ab 2025

In Zukunft soll eine unabhängige Kommission mit dem Namen "SafeR" die Sicherheitsstandards im Radsport bewerten und Vorschläge zur Verbesserung machen, die dann von der UCI ins Regelwerk aufgenommen werden sollen. Bislang bleibt vieles noch im Ungefähren. Endgültig etabliert sein soll "SafeR" im Januar 2025, aber bislang ist weder klar, welche Rechtsform diese Kommission einmal haben soll - und auch die Finanzierung steht noch nicht fest.

UCI-Präsident David Lappartient verweist in diesem Zusammenhang auf den Anti-Dopingkampf, den der Weltverband im Zuge der Dopingmachenschaften von Lance Armstrong an eine unabhängige Kommission auslagerte, die inzwischen aber unter das Dach der International Testing Agency (ITA) gewandert ist.

Gemeinsam an einem Tisch

Als größten Erfolg verbuchten die Beteiligten dann auch, dass man nun gemeinsam das Thema Sicherheit diskutiert. "Wir wollen nicht, dass die verschiedenen Mitglieder der Radsportfamilie sich gegenseitig beschuldigen, sondern wir wollen zusammenarbeiten, um den Radsport sicherer zu machen", betonte Lappartient.

Tatsächlich gibt es verschiedene Ursachen für schwere Stürze, das Verhalten der Radprofis, die Fahrzeuge im Rennen, die Streckenführung und immer mehr verkehrsberuhigende Maßnahmen, die die Streckengestaltung schwieriger machen. Da ist es sicher sinnvoll, dass man sich jetzt mal gemeinsam an einen Tisch setzt.

Zahl der Unfälle steigt an

Dass gemeinsame Maßnahmen dringend notwendig sind, zeigen auch die Zahlen, die der ehemalige Radprofi Michael Rogers in Bilbao präsentierte. Der Australier arbeitet inzwischen bei der UCI als Head of Innovation und ist nun einer der Mitbegründer der Initiative "SafeR". Als ersten Schritt haben sie eine Datenbank angelegt, die die Zahl der Unfälle, Stürze und Verletzungen erfasst.

Seit 2018 ist die Zahl demnach deutlich angestiegen. Allein in den ersten sechs Monaten hat es 24 Prozent mehr solcher Ereignisse gegeben als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die meisten Unfälle passieren auf den letzten 40 Kilometern - also dann, wenn die Fahrer um den Sieg kämpfen.

Das Risiko fährt weiter mit

Ob mit einer unabhängigen Sicherheitseinheit künftig Unfälle wie die von Gino Mäder nicht mehr passieren können? "Das Risiko ganz herauszubringen aus dem Radsport, ist, glaube ich, ein Ding der Unmöglichkeit", sagt Ralph Denk, Chef des deutschen World-Tour-Teams Bora-hansgrohe. Dafür müsse man dann wohl Alpen und Pyrenäen aus dem Programm streichen, diese aber machten eben den Flair des Radsports aus: "Dann kann man vielleicht nicht mehr sagen: Das sind die Helden der Landstraße."

Diese "Helden" selbst haben allerdings sehr wohl eine Vorstellung davon, wie man das Risiko gerade im Gebirge zumindest minimieren könnte, ohne gleich die Bergetappen komplett aus dem Programm zu nehmen. Einige Fahrer fordern schon seit längerem, dass man beispielsweise darauf verzichten sollte, Zielankünfte ins Tal am Ende einer Abfahrt zu legen sowie an jenem verhängnisvollen Tag in der Schweiz. "Das pusht uns einfach noch mehr ans Limit", sagt etwa Nikias Arndt, einer von Mäders Teamkollegen: "Und da ist halt die Frage, müssen wir dieses Limit noch künstlich herausfordern?"

Prudhomme: "Radsport ist brutal"

Das ist vor allem eine Frage an die Renn-Veranstalter wie die ASO, die die Tour de France organisiert. Dort betont man, man tue alles für die Sicherheit der Radprofis. Aber auch die Strecke in diesem Jahr balanciert wieder auf dem schmalen Grad zwischen Spektakel und Risiko.

Schon die erste Etappe, bei der es traditionell hektisch zugeht, führt über schmale Straßen sowie fünf kurze aber steile Anstiege und soll zum ersten Duell der großen Favoriten auf den Gesamtsieg werden. In der dritten Woche geht es auf der 14. Etappe in den Alpen neun Kilometer bergab ins Ziel nach Morzine - auf einer Strecke, die aber auch nicht zum ersten Mal so auf dem Programm der Tour steht.

Tourdirektor Christian Prudhomme, ein bekennender Radsport-Romantiker, verwies darauf, dass Radsport eben ein brutaler Sport sei: "Und die Champions wissen das auch." Zudem seien allein im Departement Sayoyen - wo ein Großteil der Alpenetappen in der dritten Tourwoche stattfinden - 100 Kilometer Straße neu asphaltiert worden, was die Strecke sicherer mache. Allein in den 21 Etappenfinals werde man insgesamt rund 5.000 Warnhinweise für die Fahrer aufstellen. "Aber Radsportler sind Künstler, man sollte sie nicht mit zu vielen Hinweisen konfrontieren", findet Prudhomme.

Fahrer gehen ans Limit

Die Künstler selbst gehen nicht nur in Abfahrten in ein besonderes Risiko, wenn sie sich im Kampf um den Etappensieg oder das Gesamtklassement befinden. In den hinteren Reihen gehen die Akteure aus anderen Gründen auch schon mal früher ans Limit. Etwa die Sprinter, die im Kampf gegen das Zeitlimit in den Bergen bergab ein wenig aufzuholen versuchen, was sie bergauf an Zeit eingebüßt haben.

"Oft sind es die Fahrer selbst, die es gefährlicher machen", meint der Niederländer Mathieu van der Poel. Und auch Simon Geschke, der im vergangenen Jahr aufopferungsvoll um das Bergtrikot kämpfte, glaubt, dass das Streichen von Zielankünften am Ende von steilen Abfahrten das Problem kaum lösen würde. "Es wird immer Risiko genommen, auch am Anfang einer Etappe", sagt Geschke.

Dazu kommt aus Sicht von Nikias Arndt noch ein weiterer Aspekt. "Der Druck wird von Jahr zu Jahr größer", sagt der 31 Jahre alte Radprofi. Druck, der aus seiner Sicht weniger aus dem immer währenden Kampf um die begrenzte Zahl von Arbeitsplätzen im Radsport entsteht, als viel mehr aus dessen rasanter Professionalisierung in den vergangenen zehn Jahren. Die Teams überließen heute nichts mehr dem Zufall: Ernährungspläne, Trainingssteuerung, Betreuung für die Sportler. Verbunden mit der Erwartung, Leistung zu bringen. Als umsorgter Radprofi wolle man da unbedingt etwas zurückgeben, sagt Arndt.

"Jeder hat zwei Bremsen"

Und oft genug werden Fahrer für ihre Risikobereitschaft ja auch belohnt. Im vergangenen Jahr feierte der Brite Tom Pidcock einen viel gepriesenen Etappensieg in Alpe d'Huez. Den Grundstein dafür legte er auf einer rasanten Abfahrt vom Galibier, bei der er bis zu 105 Stundenkilometer erreichte und die Konkurrenten in den Kurven außen überholte - ein lebensgefährliches Wagnis, gefeiert als Heldentat.

Thomas Pidcock aus Großbritannien vom Team Ineos Grenadiers während der 12. Etappe.

Thomas Pidcock bei der 12. Etappe der Tour 2022

Und doch ist die Debatte nicht überflüssig. "Am Ende müssen wir als Rennfahrer, als Veranstalter, als Teams alles in unserer Macht stehende versuchen, den Radsport so sicher wie möglich zu machen, einfach an allen Schrauben versuchen zu drehen", sagt John Degenkolb: "Damit wir das ähnlich wie in der Formel 1 mal hinbekommen, dort mehr und mehr Sicherheit reinzubekommen."

Mit der Initiative für "SafeR" ist vielleicht ein erster Schritt auf diesem Weg gemacht. Doch bis dahin gilt wohl, was der deutsche Radprofi Georg Zimmermann recht trocken anmerkt: "Jeder hat zwei Bremsen am Rad montiert und jeder entscheidet selbst, wie viel er die benutzt."