Der französische Radprofi Lilian Calmejane
Tourreporter

Reißzwecken auf der Strecke Die Tour de France und die gefährliche Nähe des Publikums

Stand: 04.07.2023 16:57 Uhr

Auf der zweiten und dritten Etappe der Tour de France wurden Reißzwecken auf die Strecke gestreut. Für die Fahrer ist das extrem gefährlich. Aber gänzlich verhindern lassen sich solche Vorfälle nicht.

Von Michael Ostermann, Nagaro

"Menschlicher Blödsinn" ausgeführt von "Idioten". Der französische Radprofi Lilian Calmejan hat eine ziemlich klare Meinung von Menschen, die Reißzwecken auf der Strecke der Tour de France verteilen. Calmejan postete auf Twitter ein Bild seines Reifens, in dem diverse Reißzwecken steckten.

Mehrere Fahrer berichteten nach der zweiten Etappe von einer außergewöhnlichen Häufung von Reifenschäden und auch auf der dritten Etappe lagen die spitzen Reißnägel unterwegs auf der Straße, wieder gab es Defekte. Wie viele Fahrer betroffen waren, lässt sich nicht genau sagen.

Kostenloses Spektakel auf öffentlichen Straßen

Die Vorfälle zeigen jedoch, dass die Tour de France ein verwundbares Ereignis bleibt. "Wir machen halt einen Außensport auf öffentlichen Straßen, die dann für uns gesperrt werden. Und dementsprechend kann man halt nicht alles kontrollieren", sagt Rolf Aldag, sportlicher Leiter des deutschen World-Tour-Teams Bora-hansgrohe.

3.405,6 Kilometer ist die Strecke der Tour de France in diesem Jahr lang, das Rennen ist frei, ein kostenloses Spektakel - weniger der Besuch einer Sportveranstaltung. Denn entlang der Route erhascht man bestenfalls für Sekunden oder Minuten einen Blick auf die Athleten. Den Rennverlauf verfolgen kann man nicht, der erschließt sich nur in der TV-Übertragung. Viele Menschen, heißt es, kämen vor allem wegen der Werbekarawane an die Strecke - eine Art Karnevalszug der Tour-Sponsoren.

Tour-Publikum immer wieder im Fokus

Nicht jeder Zuschauer bei der Tour kommt also wegen des Radsports und manch einer mag an einen Spaß denken, wenn er Reißzwecken auf der Straße verteilt. Dass damit die Sicherheit der Fahrer in Gefahr ist, scheint dabei entweder in Kauf genommen oder nicht bedacht zu werden. "Die meinen vielleicht, da gibt es einen Platten wie beim Alltagsrad", vermutet Bora-hansgrohe-Teamchef Ralph Denk. "Aber das sind Hightech-Reifen und Laufräder. Und wenn da abrupt die Luft rausgeht, kann das zu schweren Stürzen führen."

Das Verhalten des Publikums am Streckenrand steht immer wieder im Fokus der Sicherheitsdebatten im Radsport. Selfies mit dem Rücken zum Fahrerfeld, Bengalos mit großer Rauchentwicklung oder das begeisterte Herlaufen neben einem Fahrer auf engstem Raum an einem Anstieg - all das kann die Radprofis in Gefahr bringen. Seit Jahren schon schaltet der Tourveranstalter ASO Kampagnen, in denen die Fans am Streckenrand zu mehr Respekt vor den Fahrern aufgerufen werden.

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Reißzwecken, Heuballen und Klimaaktivisten

Doch all der Aufrufe zum Trotz gibt es immer wieder von Zuschauern verursachte Zwischenfälle. Bei der Tour de France 2021 verursachte eine Zuschauerin auf der ersten Etappe einen Massensturz, als sie ein selbst gemachtes Schild mit einem Gruß an ihre Großeltern in die Kamera hielt - mit dem Rücken zum heranrasenden Feld.

Und auch Reißzwecken auf der Straße hat es in der langen Geschichte der Tour schon gegeben. Etwa 2012, als unter anderem der Australier Cadel Evans - damals der Titelverteidiger - betroffen war. "Wir haben Hunderttausende Zuschauer und ein oder zwei Leute, die sich völig daneben benehmen", sagt der Streckenchef der Tour de France, Thierry Gouvenou. "Aber leider ist es extrem schwierig, sie in der Menge des Publikums zu identifizieren."

Die Bühne Tour de France ist in ihrer langen Geschichte aber auch immer wieder genutzt worden, um auf politische oder gesellschaftliche Probleme aufmerksam zu machen. Im vergangenen Jahr blockierten Klimaaktivisten der "Letzten Generation" gleich auf zwei Etappen die Tourstrecke. Es gab auch schon protestierende Bauern, die dem Peloton Heuballen in den Weg legten.

Krawalle in Frankreich - Gefahr für die Tour?

Frankreich ist derzeit ein Land in Aufruhr. Die Krawalle, ausgelöst durch den Tod des 17 Jahre alten Nahel durch einen Schuss bei einer Polizeikontrolle, ebbten zuletzt etwas ab. Aber die Sorge bleibt, dass auch in diesem Fall die Bühne Tour de France für Proteste oder gar Ausschreitungen genutzt werden könnte. Man sei im ständigen Austausch mit dem Innenministerium und beobachte die Lage ganz genau, versichert Tourdirektor Christian Prudhomme.

28.000 Polizisten und Feuerwehrleute stellt das französische Innenministerium während der dreiwöchigen Rundfahrt zur Verfügung. 300 Beamte sind die gesamte Tour über dabei. Aber auch dieses enorme Aufgebot an Sicherheitskräften wird Zwischenfälle nicht gänzlich verhindern können.

Im Peloton sorgen die Ausschreitungen kaum für Aufregung. Adam Yates, derzeit im Gelben Trikot des Gesamtführenden, erklärt, er säße ja nur im Sattel seines Rades, mit anderen Dingen beschäftige er sich nicht. Ganz anders der Franzose Guillaume Martin, der Philosophie studiert hat und deshalb auch über den Lenker hinausschaut. "Ich bin Radprofi, aber auch Bürger. Wir befinden uns in einer problematischen Situation", sagt Martin und beklagt eine "Spaltung der Gesellschaft" in seiner Heimat.

Die Nähe der Fans gehört zum Geschäftsmodell

Unabhängig davon, ob die Spannungen in Frankreich auch das Nationalheiligtum Tour de France erreichen oder nicht: Für den Radsport bleibt das Dilemma zwischen Nähe zum Publikum und Sicherheit vor dem Publikum ein Dauerthema. Denn ein Teil der Faszination, die der Radsport auf das Publikum ausübt, ist eben der direkte Zugang zu den Akteuren, die sich nach dem Ende der Corona-Pandemie im Zielbereich der Etappen den Weg zu den Teambussen wieder durch Menschenmassen bahnen.

Die Akteure selbst wollen diese Nähe unbedingt beibehalten. Nicht allein aus Romantik, sondern weil sie Teil des Geschäftsmodells ist. "Das ist ein großer Wert, den wir in die Vermarktung des Sports mit reinschmeißen können", sagt Ralph Denk, der Teamchef von Bora-hansgrohe. "Und wenn man sich zu sehr abkapselt, dann ist er nicht mehr greifbar und ist so weit weg, wie das zum Beispiel im Fußball der Fall ist."