Thibaut Pinot
Tourreporter

Franzosen bei der Tour Gefeierte Lieblinge ohne Fortune

Stand: 19.07.2023 07:15 Uhr

Frankreich wartet seit fast 40 Jahren auf einen einheimischen Toursieger und auch in diesem Jahr ist kein französischer Radprofi in der Nähe des Podiums. Die Fans feiern vor allem Thibaut Pinot und Julian Alaphilippe, die sich bislang vergeblich um einen Etappensieg bemühen.

Von Michael Ostermann, Saint-Gervais (Combloux)

Es ist jeden Morgen die gleiche Szene: "Thibaut, Thibaut", kreischen die Menschen hinter den Barrieren, wenn ihr Held vorbeirollt Richtung Startlinie der anstehenden Tour-de-France-Etappe. Doch der blickt dann meist stur geradeaus hinter seiner dunklen Sonnenbrille. Man könnte das als Arroganz missdeuten, aber Thibaut Pinot, 33, ist die viele Zuneigung einfach unangenehm.

Manchmal mache ihm die Begeisterung sogar "ein bisschen Angst", hat der franzöische Radprofi am zweiten Ruhetag der Tour de France erklärt. "Auf der Straße bin ich weit davon entfernt, der Beste zu sein. Und doch bin ich einer derjenigen Fahrer, die am meisten ermutigt werden", sagte Pinot.

Pinot hat gelitten, die Franzosen mit ihm

Die Liebe, die Pinot entgegenschlägt, lässt sich mit dem Faible der Franzosen für jene Fahrer erklären, die viel versuchen, erfolgreich sind und doch immer wieder dramatisch scheitern. Und Drama hat Thibaut Pinot den Leuten während seiner Karriere jede Menge geboten.

Thibaut Pinot auf der 17. Etappe

2012 hatte er sich bei der Tour das erste Mal in die Herzen seine Landsleute gefahren, als der damals 24 Jahre alte Pinot die Etappe nach Porrentruy in der Schweiz als Solist gewann. Angetrieben von seinem völlig entfesselten Teamchef Marc Madiot, der ihn aus dem Fenster des Begleitfahrzeugs hängend und auf die Autotür trommelnd ins Ziel brüllte. Zwei Jahre später stand Pinot dann auf dem Podium in Paris als Gesamtdritter. Und spätestens ab diesem Tag war er es, der die Hoffungen Frankreichs auf das Ende der langen Durststrecke ohne Toursieger aus dem eigenen Land auf seinen Schultern trug.

Seit 1985, seit dem letzten Triumph des fünfmaligen Siegers Bernard Hinault, warten die Franzosen ja schon darauf, dass einer der ihren das Gelbe Trikot nach Paris bringt. Daran konnten auch die Streckengestalter der Tour de France nichts ändern, die die langen Zeitfahren aus dem Programm nahmen und den Kurs eher den Qualitäten der französischen Fahrer anzupassen versuchten.

Doch auch Pinot konnte die Sehnsucht der Grande Nation nicht stillen. Aber 2019 schien ein Toursieg Pinots zumindest im Bereich des Möglichen. In den Pyrenäen war er damals der beste Kletterer, gewann eine Etappe auf dem Tourmalet (natürlich wieder angefeuert von einem brüllenden Marc Madiot). Doch in den Alpen stoppte ihn dann drei Tage vor dem Ende der Rundfahrt eine Knieverletzung. Unter Tränen stieg Pinot damals vom Rad und mit ihm litt eine ganze Nation - nur 20 Sekunden hatte sein Rückstand auf den späteren Gesamtsieger Egan Bernal zu diesem Zeitpunkt betragen.

Julian Alaphilippe

Julian Alaphilippe auf der 14. Etappe

Die Franzosen lieben den "Haudegen" Alaphilippe

Am selben Tag verlor Julian Alaphilippe das Gelbe Trikot an Bernal. Auch Alaphilippe ist ein Liebling der französischen Fans, aber der zweimalige Weltmeister ist kein Rundfahrer, eher ein Baroudeur, ein Haudegen, der sein Heil in der Attacke sucht. Dass er sich damals so lange an das Maillot Jaune klammerte, trotz der Aussichtslosigkeit seines Unterfangens, lässt ihm die Sympathien seiner Landsleute bis heute zufliegen. "Die Öffentlichkeit hat es nicht vergessen und das erwärmt mein Herz", hat Alaphilippe der Sportzeitung L'Equipe erzählt.

Bei der aktuellen Tour spielen Pinot und Alaphilippe keine Rolle im Gesamtklassement. Pinot hat nach dem Zeitfahren als 13. bereits mehr als 25 Minuten Rückstand auf das Gelbe Trikot, Alaphilippe liegt fast zwei Stunden zurück. Beide jagen seit Beginn der Rundfahrt vor zweieinhalb Wochen einem Etappensieg hinterher. Man hat sie beide schon häufiger mit hängender Zunge in der Ausreißergruppen gesehen - doch es fehlte ihnen an Kraft und Fortune.

Vor allem Alaphilippe, der Draufgänger, der in seiner Freizeit Schlagzeug spielt, hat es unermüdlich probiert. Doch nach einem schweren Sturz beim Frühjahrsklassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich ist er nicht mehr an die Form seiner besten Jahre herangekommen. "Ich leide bei dieser Tour mehr als je zuvor, weil meine Form einfach nicht perfekt ist", sagt Alaphilippe. Dennoch habe er es immer wieder versucht, weil er lieber Akteur sei, als hinten im Feld zu hängen, getreu seinem Motto: "Alles oder nichts."

Letzte Tour-Teilnahme für Pinot

Für Pinot ist es die letzte Teilnahme an der Tour de France, am Ende der Saison wird er seine Karriere beenden. Am Ruhetag bekräftigte Pinot diesen Entschluss noch einmal, davon werde ihn auch ein Sieg nicht abbringen. Der eher zurückhaltende Radprofi, der lange mit seiner großen Angst vor Abfahrten zu kämpfen hatte, verstand sich immer als Gegenentwurf zu den von Daten gesteuerten und nur auf Leistung fixierte Kollegen. Viele Radprofis hätten die Vorstellung vom Leben verloren.

Nach dem Ende seiner Karriere werde er daheim in Mélisey im Départment Haute-Saône "ruhig in den Garten gehen, ganz allein, um die Stille zu genießen", sagt Pinot. Den Rummel bei der Tour de France und die Last der Erwartungen der französischen Radsportfans, werden dann andere tragen müssen. Etwa Pinots 26 Jahre alter Teamkollege David Gaudu, der die Tour im vergangenen Jahr auf Rang vier beendete. Diesmal wollte Gaudu in Paris auf dem Podium stehen.

Eine Hoffnung, die im Frühjahr bei Paris-Nizza weiter genährt wurde, als er hinter Pogacar und vor Vinegaard auf den zweiten Platz fuhr. Doch nach 16 Etappen der Tour de France liegt Gaudu auf Rang 9 mit 17'38 Minuten Rückstand auf das Gelbe Trikot und 8'46 Minuten hinter Platz drei. Eine Erklärung hat er dafür nicht. "Ich weiß, dass ich gut in Form bin, auch wenn ich ein paar Durststrecken hatte", sagte Gaudu am Ruhetag, "aber man darf nicht aufgeben."

Das gilt auch für die darbende Nation, die immerhin schon einen Tagessieg durch Victor Lafay auf der 2. Etappe bejubeln durfte. Doch ein französischer Tour-de-France-Sieger ist weit und breit nicht in Sicht.

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Sportschau, 02.07.2023 13:00 Uhr