Fußball | WM-Qualifikation ARD-Reporter Kempe über Fußball in der Ukraine: "Spotlight auf die Situation im Land"

Stand: 31.05.2022 20:33 Uhr

Robert Kempe berichtet für die ARD über den Krieg in der Ukraine. Im Interview spricht er über das WM-Playoffspiel der Ukraine - und über die politische Bedeutung des Fußballs in Kriegszeiten.

Am letzten Tag im Mai steht Robert Kempe in einem Park in Dnipro, einer Millionenstadt rund 400 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Kiew. Die Sonne scheint, als wolle sie einen all das vergessen lassen: den Krieg, das Leid, den Tod. Vor 97 Tagen hat Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Kempe berichtet für die ARD über den Krieg - doch heute spricht er auch über Fußball. Es ist der Tag vor dem WM-Playoffspiel der ukrainischen Fußballnationalmannschaft gegen Schottland.

Sportschau: Am Mittwochabend (01.06.2022) spielt die Ukraine in den Playoffs zur WM 2022 gegen Schottland. In anderen Zeiten, in solchen ohne Krieg, wäre das natürlich ein extrem wichtiges Spiel für die Ukraine. Hat das Spiel auch in Zeiten des Krieges eine Relevanz für die Ukraine?

Robert Kempe: Über das Spiel morgen wird in der Ukraine auf jeden Fall berichtet. Natürlich unterscheidet sich die Berichterstattung von der über herkömmliche Spiele, es geht weniger um die sportliche Aufstellung. Man muss wissen, dass viele der ukrainischen Spieler, die in ihrer Heimat unter Vertrag stehen, seit Beginn des Kriegs kein Spiel mehr bestritten haben. Deswegen sind sportliche Berichte über das Spiel schwieriger. Es geht vielmehr um die politische Bedeutung, die das Spiel morgen hat.

Sportschau: Welche politische Bedeutung hat das Spiel denn?

Robert Kempe: Es ist das erste offizielle Spiel der ukrainischen Nationalmannschaft seit dem Beginn des Krieges. Man hat das immer wieder mitbekommen, auch in der Berichterstattung: Viele Spieler haben Familien, die in besetzten oder ehemals besetzten Gebieten wohnen. Da bekommt man mit, wie sie hier verwurzelt sind. Dass die Menschen natürlich darauf schauen, was die Nationalmannschaft macht. Und wenn es nur neunzig Minuten Ablenkung sind von dem, was die Menschen am meisten umtreibt. Und das ist natürlich der Angriffskrieg, der hier seit dreieinhalb Monaten tobt. Diese Situation macht das Spiel für viele Menschen hier sehr speziell.

Viele wünschen sich natürlich, dass die Ukraine das Spiel in Schottland gewinnt und auch ein mögliches Folgespiel gegen Wales, um sich für die Weltmeisterschaft zu qualifizieren. Weil eines der größten Anliegen, das die Ukraine hat, ist, dass man die Situation im Land weiter auf der Weltbühne verortet. Da ist der Fußball, gerade eine Weltmeisterschaft, eine ideale Bühne, um auf die Situation im Land aufmerksam zu machen.

Sportschau: Also könnte man sagen, eine WM-Teilnahme böte der Ukraine und seiner Bevölkerung eine Plattform?

Robert Kempe: Es gibt ja viele Sportler, die hier im Land geblieben sind und seit Beginn des Krieges nicht mehr trainiert haben. Manche haben zum Beispiel Hilfslieferungen organisiert. Es gibt Sportler, die im Kriegseinsatz sind, die sich verpflichtet haben zur Armee zu gehen oder zu den territorialen Verteidigungstrupps, wie sie hier heißen.

Viele haben uns das immer wieder gesagt: Wie wichtig es ist, dass es Sportler gibt, die auch aktiv bei Wettkämpfen antreten. Weil überall, wo ein ukrainischer Sportler oder eine ukrainische Mannschaft antritt, gleichzeitig ein Spotlight auf die Situation hier im Land gerichtet wird. Dadurch kann man natürlich kommunizieren, wie die Zustände im Land sind und was die Menschen durchmachen müssen. Und was für ein unfassbares Leid hier seit Monaten herrscht.

Sportschau: Einige ukrainische Nationalspieler haben Sach- oder Geldspenden organisiert. Welche Rolle können Fußballer mit ihrer Prominenz einnehmen?

Robert Kempe: Es gab ja Benefizspiele von ukrainischen Vereinsmannschaften im Ausland, die Geld eingebracht haben, das hier für Projekte und humanitäre Hilfe zur Verfügung gestellt wurde. Es gibt Fußballer, die Krankenwagen organisiert haben und in ihre Heimatstädte geschickt haben. Von einem Spieler heißt es sogar, er habe eine Drohne gekauft, um diese dann den territorialen Verteidigungstrupps zur Verfügung zu stellen.

Genauso ist auch die Auffassung in der Bevölkerung. Es gibt Männer, die sind in den Krieg gezogen. Aber es gibt auch Männer, die organisieren Hilfsspenden, die fahren für Freiwilligenorganisationen zum Beispiel Flüchtlinge aus den umkämpften Gebieten. Und es gibt wieder andere Menschen, auch viele, viele Frauen, die auch Hilfsgüter organisieren oder mitkämpfen.

Da ist in der Ukraine eine Einigkeit, die sagt, jeder muss irgendwie seinen Teil dazu beitragen, dass man diesem Angriffskrieg der russischen Armee widersteht und erfolgreich das Land verteidigen kann. Man kann das übertragen auf die Fußballer und die Fußballmannschaften in der Ukraine.

Sportschau: Haben prominente Politiker, etwa der Präsident Wolodymyr Selenskyj, vor dem Playoffspiel an die ukrainische Nationalmannschaft appelliert?

Robert Kempe: Das habe ich noch nicht vernommen. Aber es ist eine große Erwartungshaltung da. Weniger, dass die Ukraine unbedingt gewinnen muss, es ist mehr dieser Wunsch da. Man hofft, dass man für ein bisschen Abwechslung sorgen kann. Das ist das, wie es hier kommuniziert wird. Das Spiel wird weniger aktiv politisch aufgeladen, dafür ist die Situation hier angespannt genug.

Sportschau: Der Spielbetrieb in der Ukraine ruht seit Beginn des Krieges. Gibt es Pläne, den Spielbetrieb wieder aufzunehmen?

Robert Kempe: Es gibt in der Tat Diskussionen, wie der Ligabetrieb in der Ukraine wieder aufgenommen werden kann. Es wird darüber gesprochen, dass es vielleicht schon im Juli oder August soweit sein könnte. Es gibt die Idee, dass die Stadien leer sind, weil man nicht für die Sicherheit der Menschen garantieren kann. Dann wird überlegt, was könnte ein Spielort sein: Spielt man in der Ukraine oder lässt man den Ligabetrieb zum Teil im Ausland stattfinden?

Es gibt die Überlegung, die Spiele alle in Kiew abzuhalten, weil dort auch mehrere Stadien zur Verfügung stehen würden. Man muss natürlich Pläne ausarbeiten, was passiert bei einem Luftalarm oder bei einem russischen Angriff auf die Stadt. Das muss alles noch ausgearbeitet werden.