Thomas Tuchel beim Super-Cup-Finale gegen RB Leipzig

Tuchel beim FC Bayern Von schockverliebt zur Schockstarre

Stand: 14.08.2023 17:01 Uhr

Nach der Supercup-Niederlage gegen Leipzig kritisiert Thomas Tuchel die Bayern-Spieler öffentlich. Es ist nicht das erste Mal, dass er das macht. Doch trotz Unmut über unerfüllte Transferwünsche steht nun auch der Trainer in der Pflicht.

Von Raphael Weiss

Die neue Saison hat noch nicht einmal richtig begonnen, als FC Bayern-Trainer Thomas Tuchel in den Krisen-Modus verfiel. Das Supercup-Finale, offiziell ein Pflichtspiel um einen Titel, doch in der Realität nicht viel mehr als ein besseres Testspiel mit Fleißpokal für den Sieger, war gerade verloren gegangen, da konnte Tuchel nicht mehr an sich halten. "Konsterniert", sei er, verkündete der Trainer, "fassungslos", ja sogar "ratlos". Und setzte sogar noch einen oben drauf, als er sich bei Starzugang Harry Kane entschuldigte, dass dessen Debüt so verschandelt wurde und prophezeite, seine Mannschaft müsse vom Neuzugang noch einiges lernen.

Tuchel: Zwischen schockverliebt und wutschnaubend

Einen Tag zuvor noch blickte Tuchel geradezu euphorisch auf den Saisonstart und seine Mannschaft. Der Trainer machte nach seiner ersten Vorbereitung mit dem FC Bayern einen "neuen Spirit" aus und freute sich darauf, diesen "den Fans zu zeigen." Doch schon während des Spiels fluchte, wütete, schimpfte der Coach auf seine Spieler. Am Ende stand es 0:3 gegen RB Leipzig und jegliche Spur von Vorfreude war aus dem Trainer verflogen.

Die Situation erinnert an die vergangene Saison, als Tuchel kurz nach seiner Präsentation noch sagte er sei "schockverliebt" in diese Mannschaft und dem Kader attestierte er, einer der besten in ganz Europa zu sein. Wochen später übte er immer wieder öffentliche Kritik an seinen Spielern und zielte dabei verbal oft auf die Mentalität in der Mannschaft.

Tuchel stellt sich immer wieder gegen die Mannschaft

Mit seinen drastischen Worten richtete sich Tuchel nun erneut direkt und öffentlich gegen seine Spieler. Es ist ein riskantes Verhalten des Trainers, denn dieser Mannschaftskern ist bekannt dafür, sich zur Wehr zu setzen. Carlo Ancelotti und Niko Kovac bekamen es zu spüren, was es bedeutet, wenn in München sich ein Trainer gegen die Kabine wendet. Und auch bei Julian Nagelsmann - so argumentierte zumindest Hasan Salihamidzic - habe die Beziehung zwischen Trainer und Mannschaft nicht mehr gepasst.

Wie seine Vorgänger kritisiert Tuchel seine Spieler öffentlich für ihre Leistung, weist damit indirekt die Schuld an Niederlagen von sich. Doch der 49-Jährige geht sogar noch ein Stück weiter. Er spricht auf Pressekonferenzen über fehlende Mentalität und Qualität im Kader, stellt verdiente Leistungsträger wie Leon Goretzka öffentlich zum Verkauf ins Schaufenster und hebt nun Neuzugang Kane auf ein höheres Podest als den Rest des an Top-Stars nicht armen Kader des FC Bayern.

"Ratlos" im Haifischbecken FC Bayern

Ob Tuchel damit Druck auf die restlichen Verantwortlichen an der Säbenerstraße 51 ausüben will, möglichst schnell die gewünschten Neuzugänge im defensiven Mittelfeld, Tor und in der Verteidigung zu präsentieren? Ist der Wechsel zwischen überschwänglichen verbalen Streicheleinheiten und Wachrütteln ein Motivationstrick? Doch gerade das verwendete Wort "ratlos" dürfte nur wenig hilfreich sein, um bei den FC-Bayern-Spielern eine Trotzreaktion hervorzurufen. Denn ein ratloser Trainer hat nicht gerade die stärkste Position in einem Verein, den Vorgänger Nagelsmann als "Haifischbecken" betitelt hatte.

Tuchels Verfügbarkeit war letztlich der ausschlaggebende Grund für Nagelsmanns Entlassung, die Mannschaft und Verein in ein Chaos stürzte - und Tuchel fortan als neuer Cheftrainer mittendrin. Dass nun auch der Coach Altlasten von damals mitgenommen hat und die Mannschaft nun im Sommer nicht wirklich den gewünschten Neuanfang hatte, erschwert die Situation für Team und Trainer gleichermaßen. Denn Enttäuschungen und Frust aus der komplizierten Schlussphase wurden nun mit in die neue Saison genommen.

Der schlechteste Punkteschnitt seit Trapattoni

So auch der Fakt, dass der FC Bayern unter Tuchel bislang weder erfolgreich noch wirklich ansehnlich spielt. Die Ideen des Trainers fruchten derzeit noch nicht. Weder im zurückliegenden Saisonendspurt, noch in den Testspielen. Mit sechs Siegen aus 13 Spielen weist Tuchel den schlechtesten Punkteschnitt eines FC-Bayern-Trainers auf, seit Giovanni Trapattoni (1994/95). In der Saisonvorbereitung präsentierte sich das Team konteranfällig, teilweise unkonzentriert und ziellos. Doch trotz bislang unerfüllter Transferwünsche ist nach der Verpflichtung von Harry Kane der Kader auf europäischem Spitzenniveau.

Baustellen gibt es in fast jeder Mannschaft der Welt, selbst Pep Guardiola, Trainer von Manchester City, fordert traditionsgemäß Verstärkungen auf einzelnen Positionen. Und gerade der Supercup-Gegner Leipzig könnte Tuchel als Vorbild dienen. Der Bundesliga-Konkurrent hat in allen Mannschaftsteilen seine besten Spieler verloren, musste zahlreiche Neuzugänge integrieren - und doch brachte Marco Rose eine funktionierende Mannschaft auf den Platz, die als Einheit funktionierte und die alt-bekannten Schwächen der Münchner gnadenlos ausnutzte.

Dreesen verteidigt Tuchel-Aussagen

Zwar verteidigte Jan-Christian Dreesen, Vorstandsvorsitzender des FC Bayern, seinen Angestellten: "Wenn man diese innerliche Anspannung hat und sich auf das erste Match freut und dann auch gleich um einen Titel spielt, dann ist es umso enttäuschender, wenn man sich eingestehen muss, dass man wahrscheinlich verdient verloren hat. Ich glaube, so sollte man dann auch Thomas Tuchel interpretieren", sagte er.

Leipzig gewinnt den Supercup

Torsten Winkler, Sportschau, 12.08.2023 20:45 Uhr

Doch die Münchner haben in dieser Saison schon viel in eine Mannschaft investiert, die seit Jahren zur europäischen Spitze gehört. Das Verständnis dürfte bald schwinden, sollte der Trainer für diese Mannschaft kein passendes System und keinen Weg finden, sie zu motivieren. Denn das gehört nun mal auch zu Tuchels Jobbeschreibung. Ein Sieg zum Saisonauftakt gegen Werder Bremen (Freitag, 20.30 Uhr, live in der Radioreportage bei BR24Sport.) würde sicherlich zur allgemeinen Entspannung beitragen. Und vielleicht kann er ja sogar alte Gefühle wieder wecken.

Quelle: BR24Sport
14.08.2023 - 18:30 Uhr