Jonas Vingegaard
Tourreporter

Toursieger Jonas Vingegaard Normalo mit außergewöhnlichen Kräften

Stand: 23.07.2023 20:11 Uhr

Jonas Vingegaard gewinnt zum zweiten Mal die Tour de France. Der Däne ist ein introvertierter Mensch, der sich strikt an seine Pläne hält. Damit fährt er bei der Tour besser als sein freigeistiger Rivale Tadej Pogacar. Aber Vingegaards Dominanz ruft auch Skepsis hervor.

Von Michael Ostermann, Paris

Es ist vollbracht: Jonas Vingegaard hat in Paris im Gelben Trikot seinen zweiten Sieg bei der Tour de France gefeiert. Nach den Maßstäben des Radsports ist der Däne damit ein Superstar, das Aushängeschild seines Sports. Doch wer ist dieser schmächtige, blasse Mann mit den tiefen Furchen um den Mund? Was treibt ihn an, was beschäftigt ihn, was hat er den Menschen zu sagen?

Ein Familienmensch, introvertiert und schüchtern

Viele haben sich in den vergangenen drei Wochen sehr bemüht, Antworten auf diese Fragen zu finden. Sie haben versucht mehr herauszufinden über Jonas Vingegaard, 26, aus Hillerslev in Dänemark, seit feststand, dass er diese Tour de France am Ende mit großem Vorsprung gewinnen würde. Aber selbst der charmante Sebastian Piquet, der die Interviews hinter dem Podium für den Tourveranstalter ASO führt, kam dabei nicht wirklich weiter.

Sportschau Tourfunk, 22.07.2023 19:06 Uhr

Er sei ein Familienmensch, introvertiert und ein bisschen schüchtern, beschrieb Vingegaard sich selbst. Viel mehr mochte er nicht preisgeben. Seine Partnerin Trine Marie Hansen und die gemeinsame Tochter Frida waren stets die ersten, mit denen er Kontakt aufnahm nach den Etappen. Und wenn die beiden nicht vor Ort waren, dann sah man ihn, noch bevor er sich auf dem Podium sein Gelbes Trikot überstreifen ließ, am Telefon.

Man hat auch noch erfahren, dass Vingegaard und seine Frau gelegentlich ein Glas Weißwein genießen. Und in einem Sportschau-Interview vor der Tour hat er erzählt, dass er die Musik der dänischen Popband "The Minds of 99" mag und auf Junk-Food stehe. Aber natürlich gönnt er sich das nur ganz selten. Etwa nach dem Toursieg: Er freue sich darauf, zuhause als erstes einen Duro zu essen, sagte er am Samstag auf der obligatorischen Pressekonferenz des designierten Toursiegers. Ansonsten hält er sich natürlich an die strikten Diätpläne eines Radprofis.

Die Pläne geben ihm Sicherheit

Überhaupt, die Pläne. Von denen hat Vingegaard in den vergangenen drei Wochen in Frankreich öfter gesprochen als über sich selbst. Die Pläne geben ihm Sicherheit. "Wenn ich mich daran halte, weiß ich, dass ich meine Bestform erreiche", sagte Vingegaard. Und seit dem Winter schon hätten sie sich bei seinem Team Jumbo-Visma eine Strategie für die Tour zurecht gelegt, hat er erzählt. "Wir hatten jeden Tag einen Plan und haben den ausgeführt", sagte Vingegaard. "Nicht alle haben unsere Pläne verstanden, aber wir. Und das hat sich am Ende bezahlt gemacht."

Als alle noch glaubten, es werde bis zum Schluss ein Sekundenduell zwischen ihm und Tadej Pogacar bleiben, betonte Vingegaard stets, am Ende würden Minuten die Tour entscheiden. Dann kam jenes Zeitfahren in den Alpen, bei dem er eine Klasse besser war als Pogacar und zwei Klassen besser als der Rest des Feldes. Einen Tag später funkte Pogacar am Col de de la Loze: "Ich bin fertig, ich bin tot." Und verlor die Tour endgültig. Vingegaards Vorsprung im Gesamtklassement beträgt in Paris 7'29 Minuten.

Eine Dominanz, die Zweifel weckt

Sollte dieses Szenario Teil des Plans bei Jumbo-Visma gewesen sein, dann werden sie auch mit den Zweifeln gerechnet haben, die vor allem die Übermacht im Zeitfahren hervorgerufen hat. Im Radsport geht bei sowas immer der Alarm an. Denn eine solche Dominanz weckt ungute Erinnerung an Zeiten, in denen Super-Doper wie Lance Armstrong ähnlich deutlich die Tour beherrschten.

"Ich nehme nichts", hat Vingegaard in den vergangenen Tagen mehrfach betont, obwohl er die Skepsis ja verstehen könne, angesichts all der Betrügereien in der Geschichte des Radsports. Als Erklärung für seine Leistungen dienen auch hier die Pläne, die strikten Trainingsvorgaben, die Verwissenschaftlichung der Branche, die ausgeklügelten Diäten und das immer besser werdende Material. "Ich entwickle mich immer noch und werde besser. Aber es ist nicht so, dass ich 20 Prozent stärker wäre als im vergangenen Jahr", sagte Vingegaard.

Zumindest in seiner Heimat Dänemark, wo mit Bjarne Riis auch schonmal ein Toursieger wegen Dopings vom Sockel stürzte, ist man gewillt diese Erklärung zu akzeptieren. "Er ist ein körperliches Phänomen und bei allem, was er tut sehr akribisch, sehr systematisch und gut vorbereitet", sagt der dänische TV-Kommentator Dennis Ritter. "Und solange es nichts Konkretes gibt, was ihn verdächtig macht, glaube ich nicht, dass es Zweifel an ihm gibt."

Moritz Cassalette, Sportschau, 23.07.2023 10:16 Uhr

Gegenentwurf zu Tadej Pogacar

Vingegaard lebt immer noch in einem kleinen Ort in Dänemark. Dort sei es nett und ruhig: "Genau, wie ich es mag." Ein Normalo mit außergewöhnlichen Kräften, der vor ein paar Jahren noch Fische verpackte in einer Fischfabrik. Bevor dann sein Aufstieg an die Spitze des Radsports begann, wo er im Peloton zunächst als Nervenbündel galt. "Er ist ein großer Star, aber er macht den Medien-Hype nicht mit und taucht nicht in jeder Talkshow auf. Er bleibt bei sich", sagt Ritter. "Und viele Leute in Dänemark sind genauso und mögen das."

Vingegaard ist damit der Gegenentwurf zu seinem Rivalen Tadej Pogacar, der in Monaco lebt, das Publikum in den Sozialen Medien unterhält und auch auf dem Rad spontaner agiert. Es ist jedoch genau dieser Gegensatz, aus dem das Duell zwischen Vingegaard und Pogacar seinen Reiz zieht. Die Tour de France hat immer von solchen Rivalitäten gelebt: Anquetil gegen Poulidour, Hinault gegen Fignon, Armstrong gegen Ullrich. Und immer waren die Duellanten auch Antipoden. "Für den Radsport sind diese Rivalitäten gut", sagt Vingegaard. "Es war ein unglaublicher Kampf zwischen Tadej und mir."

Jonas Vingegaard - der fliegende Däne

Sportschau, 19.07.2023 14:30 Uhr

Vingegaard und Pogacar brechen gemeinsam alle Geschwindigkeitsrekorde auf den Anstiegen der Tour und betonen bei jeder Gelegenheit ihren Respekt für den anderen. "Er ist ein wirklich netter Kerl und einer der besten Kletterer der Welt", sagte Pogacar über Vinegaard.

Vingegaard legt den alleinigen Fokus auf die Tour

Der Däne wiederum weiß, dass Pogacar der vielseitigere Fahrer ist, der auch bei den Frühjahrsklassikern gewinnen kann. Auch deshalb hält er ihn für "den besten Fahrer der Welt". Er selbst hat sich dagegen ganz der Tour de France verschrieben und dafür in diesem Jahr anders als 2021 auch auf eine Teilnahme an den Ardennenklassikern verzichtet. "Natürlich habe ich auch andere Ziele", sagt Vingegaard, "aber die Tour de France ist das wichtigste Radrennen der Welt, sie ist etwas Spezielles."

Pogacar, der 2020 und 2021 im Gelben Trikot nach Paris fuhr, wird sich etwas einfallen lassen müssen, wenn er Vingegaard im kommenden Jahr vom Thron stoßen will. Aber der Slowene zögert noch, sich ganz der Tour zu verschreiben. Dafür reizen ihn die anderen Rennen zu sehr. Aber Pogacar weiß auch, dass Vingegaard ihm derzeit voraus ist."Er war in diesem Jahr phänomenal. Im Moment ist er bei der Tour der Beste", sagte er, wohl wissend, dass das Duell wohl schon im kommenden Jahr eine Neuauflage erleben wird. "Ich denke wir beide haben eine gute Zukunft. Das klingt als wären wir ein Paar, aber wir werden künftig weitere Schlachten schlagen."