Jonas Vingegaard
Tourreporter

Überlegener Sieg im Zeitfahren Jonas Vingegaard sorgt für einen Schock

Stand: 18.07.2023 21:29 Uhr

Jonas Vingegaard dominiert das Zeitfahren der 16. Etappe der Tour de France auf eine Weise, die niemand so recht zu erklären vermag. Auch Tadej Pogacar, sein Rivale im Kampf um das Gelbe Trikot, ist angesichts der Dominanz des Dänen ratlos.

Von Michael Ostermann, Saint-Gervais (Combloux)

Kurz nach der Erschütterung, diesem Beben, das die Tour de France 2023 wohl zugunsten von Jonas Vingegaard entschieden hat, saß Tadej Pogacar mit offenem Zeitfahr-Trikot auf der Rolle, um sich das Laktat aus den Beinen zu treten. Aber eigentlich war er damit beschäftigt zu verstehen, was ihm da gerade widerfahren war bei diesem Zeitfahren auf der 16. Etappe. Ratlos wirkte der Slowene, genau wie seine Freundin Urska Zigart, die neben ihm stand und als Profiradfahrerin ebenfalls vom Fach ist.

Pogacar fast zwei Stundenkilometer langsamer

Eine Erklärung hatte Pogacar auch später nicht, nachdem er sich mit gequältem Lächeln auf dem Podium das Weiße Trikot des besten Jungprofis abgeholt hatte. Er habe sich im zweiten Teil nicht so richtig gut gefühlt, sagte Pogacar, aber dennoch sei der Abstand "ein bisschen ein Schock".

1'38 Minuten länger hatte er für die 22,4 Kilometer zwischen Passy und Combloux gebraucht. Es fehlte nicht viel, und Vingegaard hätte den zwei Minuten vor ihm gestarteten Konkurrenten sogar überholt. Fast zwei Stundenkilometer schneller war der Däne im Schnitt unterwegs. Ein geradezu surrealer Unterschied, denn Pogacar war ja nicht eingebrochen, sondern war schneller unterwegs als alle anderen Fahrer außer eben dem Mann im Gelben Trikot. Sein Vorsprung auf den Etappendritten, Vingegaards Teamkollegen Wout van Aert, einem exzellenten Zeitfahrer, hatte 1'13 Minuten betragen.

Vingegaard: "Der beste Tag meines Lebens auf dem Rad"

"Von einem anderen Stern" sei Vingegaards Leistung im Zeitfahren gewesen, sagte der Sportdirektor des deutschen World-Tour-Teams Bora-hansgrohe, Rolf Aldag. Dabei hatte man bisher gedacht, Pogacar und Vingegaard seien gemeinsam von einem anderen Planeten, den normalen Erdlingen überlegen. Und nun das. "Ich hatte wahrscheinlich den besten Tag meines Lebens auf dem Rad", sagte Vingegaard. Aber auch er konnte nicht recht erklären, warum er derart überlegen gewesen war. "Ich war selbst überrascht, dass sich soweit vorne lag", gestand er. Zwischendurch habe er gedacht, sein Radcomputer sei kaputt.

Jonas Vingegaard: "Das beste Zeitfahren meines Lebens"

Sportschau, 18.07.2023 14:10 Uhr

Ja, Vingegaard war diesen Kampf gegen die Uhr entschlossen angegangen, hatte schon gleich in den ersten beiden Kurven große Risikobereitschaft gezeigt und war die Abfahrt vom ersten Anstieg hinuntergerast, dass selbst sein Sportlicher Leiter Grischa Niermann im Auto dahinter, froh war, als "Jonas unten heile angekommen" war. Das alles hätte Sekundenabstände erklären können. Auch die 15 Sekunden, die Pogacar für den Wechsel vom Zeitfahrrad auf ein normales Rad benötigte, und auf den Vingegaard verzichtet hatte, waren keine ausreichende Erklärung für den enormen Rückstand auf den Dänen.

Eine Leistung, die Skepsis hervorruft

Mit einem derartigen Abstand zwischen den beiden Favoriten, die sich bislang einen Kampf um Sekunden geliefert hatten, hatte niemand gerechnet - nicht einmal Vingegaards Team. "Wir haben gedacht, dass es sehr, sehr eng wird das Zeitfahren", sagte Niermann: "Von daher haben wir sicher nicht gedacht, dass wir hier eine Minute oder mehr rausholen."

Sportschau Tourfunk, 18.07.2023 19:27 Uhr

Eine Performance wie diese ruft im Radsport mit seiner langen Geschichte der Leistungsmanipulation immer Skepsis hervor. Und Vingegaard wird sich damit nun verstärkt auseinandersetzen müssen. Schon am Sonntag (16.07.23) nach der 15. Etappe war der Däne gefragt worden, ob er Verständnis dafür habe, dass man seine und auch die Leistung seines Rivalen kritisch beäuge, weil sie sämtliche Geschwindigkeitsrekorde an den Anstiegen brächen. "Ich verstehe die Skepsis", hatte Vingegaard erklärt. Er begrüße sie sogar, damit der Radsport nicht wieder so werde wie früher. "Aber ich kann für mich nur sagen: Ich nehme nichts."

Pogacar wird sich nicht kampflos ergeben

So oder so fährt Vinegegaard nun seinem zweiten Toursieg entgegen. Realistisch betrachtet, muss er seinen Vorsprung von nun 1'48 Minuten im Gesamtklassement nur noch auf zwei der letzten fünf Etappen verteidigen - auf der letzten schweren Alpenetappe am Mittwoch, bei der es auf dem Weg zwischen Saint-Gervais Mont-Blanc nach Courchevel über das "Dach der Tour", den 2.304 Meter hohen Col de la Loze, geht. Und am kommenden Samstag in den Vogesen.

Pogacar, da sind sich Vingegaard und seine Teamkollegen sicher, wird sich nicht kampflos ergeben, auch wenn er den Tiefschlag beim Zeitfahren mental erst einmal wird verdauen müssen. "Er wird mit Sicherheit angreifen", sagte Vingegaard in Combloux, womit er recht haben dürfte. Pogacar ist nicht nach Frankreich gereist, um Zweiter zu werden.

"Die Tour ist noch nicht vorbei", erklärte Pogacar nach dem Zeitfahren. Jeder könne einen schlechten Tag haben. Außerdem habe er sich ja nach der 5. Etappe in den Pyrenäen, als er mehr als eine Minute auf Vingegaard einbüßte, am nächsten Tag auch wieder zurückgekämpft. "Vor allem, wenn es morgen regnet, wird es interessant", erklärte er. Für den Mittwochnachmittag sind im Raum Courchevel Gewitter vorhergesagt.