Jan Ullrich

Im Interview mit Hajo Seppelt Jan Ullrich - "Ich habe mich fürs Leben entschieden"

Stand: 26.11.2023 14:28 Uhr

Jan Ullrich war einer der größten deutschen Sporthelden - und ist so tief gefallen wie kaum ein anderer. Im Interview mit ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt berichtet der Tour-de-France-Sieger von 1997 über seine Lebenslüge, seinen Absturz, sein jüngstes Doping-Geständnis und seine Pläne für eine Zukunft ohne Drogen und Alkohol-Exzesse.

Jan Ullrich lächelt viel und lacht sogar manchmal herzhaft bei dem Treffen mit dem ARD-Dopingexperten Hajo Seppelt. Von den Spannungen zwischen den beiden, die 17 Jahre zuvor fast greifbar waren, ist nichts mehr zu spüren.

2006 war der einzige deutsche Tour-de-France-Sieger zu Gast in der Talksendung von Reinhold Beckmann. Zugeschaltet damals: Hajo Seppelt. Ullrich wich allen Fragen zu Spritzen und Pillen und seiner aufgebauten Lebenslüge aus – 17 Jahre später tut er es nicht mehr. Ullrich und Seppelt begegneten sich in dieser Woche erstmals wieder bei einem TV-Auftritt, wenige Tage nach Ullrichs unmissverständlichem, aber nicht mehr überraschenden Geständnis, ein Dopingsünder gewesen zu sein.

Das Treffen in Zürich ist eines mit völlig anderer Note, unter völlig anderen Vorzeichen. Jan Ullrich präsentiert sich aufgeräumt, geläutert und optimistisch, auch wenn er ab und zu noch immer die Opferrolle übernimmt und auch weiter zu seinem früheren Dopingumfeld schweigt. Doch vor allem wirkt er nach seinem lebensbedrohlichen Absturz wie von einer Last befreit. "Ich war ganz oben, ich war ganz unten", sagt Ullrich: "Jetzt ist für mich die Mitte das Ziel."

Hier die wichtigsten Aussagen aus dem ARD-Interview:

Jan Ullrich über seine Lebenskrise

"Ich war wirklich am Boden. Mehr ging nicht. Ich glaube, dass ich als Leistungssportler, der sich so schinden kann - der hat auch sehr viel leiden können. Ich habe auch extrem in die falsche Richtung Leid ertragen können. Damals (im Jahr 2018, d.Red.) war es praktisch das Maximum, was ging. Mehr ging vom Körperlichen und Geistigen her nicht mehr. Der nächste Step wäre praktisch der Tod gewesen."

"Ich habe mir gesagt, ich bin so ein Kämpfer vor dem Herrn, ich schaffe das, mit mir selbst ins Reine zu kommen. Ich werde das für mich verarbeiten, und ich werde das aufarbeiten, und ich habe da auch von außen und von innen keine Hilfe zugelassen. Das habe ich aber leider nicht geschafft. Es wurde immer mehr und immer mehr, und ich wurde immer schwächer und schwächer. Das hat meine Substanz mit jedem Jahr ein bisschen mehr aufgefuttert. Bis ich das Ganze betäuben musste. Dann ging es los mit Alkohol. Als leichter Alkohol nicht mehr ausreichte, kam Whiskey dazu, und als das auch nicht mehr ausgereicht hat, kam dann noch Kokain dazu - und dann war es praktisch geschehen um mich."

Moritz Cassalette, Sportschau, 26.11.2023 16:19 Uhr

... über die Gründe für seinen Absturz

"Das ist ein jahrelanger Prozess gewesen. Es fing 2006 an, als ich aus der Tour de France genommen wurde. Ich war ein Sieganwärter der Tour de France, und auf einmal ging der Boden auf, und ich bin durchgerasselt in die Tiefe. Ich wurde komplett alleingelassen. Ich war auf einmal nur noch mit meinem engsten Kreis zusammen. Ich wurde von ganz Deutschland bombardiert. Alle haben sich abgewandt. Ich war das beste Pferd im Stall, und auf einmal war ich nicht mal mehr ein Ackergaul. Das war so schwer. Das ist jetzt 16 Jahre her, aber man kann tatsächlich noch diesen inneren Schmerz fühlen. Meine Welt ist komplett untergegangen. Darauf war ich nicht vorbereitet."

... über den Grund, warum er nicht früher eine Dopingbeichte abgelegt hat

"Ich habe den Radsport so geliebt, dass ich auf keinen Fall der Verräter sein wollte. Mit dem Geständnis - wem hätte ich denn damit geholfen? Ich habe den Radsport zu sehr geliebt, um ihn irgendwie zu schädigen. Ich habe mir damals gesagt, ich sage nichts, ich reiße da keinen mit rein, ich werde da keine Familien zerstören, so wie es bei mir war.

Und ich hatte ein Beraterteam. Kurz davor hatte ich noch Teamkollegen, Sportler, Freunde, war in der Familie des großen Radsports unterwegs. Und auf einmal waren die meisten Leute, die um mich herum waren, Anwälte. Die haben gesagt, das ist ein laufendes Verfahren, da kommt noch ein Strafverfahren – ‚wir raten dir stillzuhalten‘. Und diese beiden Sachen kombiniert haben mich erst mal zu dem Entscheid geführt, dass ich nichts sage. … Die Aufklärung liegt jetzt bei anderen Leuten. Die UCI (Radsport-Weltverband, d. Red.) könnte das mit Sicherheit viel besser aufklären. Die haben diese ganzen Parameter, die haben diese ganzen Blutabnahmen und so weiter. Das ist nicht meine Aufgabe."

... über Menschen, bei denen er glaubt, sich entschuldigen zu müssen

"Es gab sicherlich Fahrer, die dem Doping widerstanden haben. Bei denen muss ich mich entschuldigen. Und natürlich bei den Zuschauern, bei den Fans. Da war die Enttäuschung groß, selbst bei meiner Mutter, die nichts wusste."

... zu einer theoretischen Aberkennung seines Tour-Sieges (die wegen Verjährung nicht mehr möglich ist)

"Ich weiß, was ich geleistet habe. Und ich weiß, wie es damals abgelaufen ist. Unter diesen Verhältnissen fühle ich mich als Tour-de-France-Sieger. Und wenn ich den Sieg verlieren würde, wäre ich das in meinem Herzen."

... über sein Verständnis für heutige Dopingsünder

"Nein, ich habe kein Verständnis. Da sind wir ja wieder beim typischen Doping: Du verschaffst Dir bewusst einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz, und das ist Doping. Und ich bin der Meinung, dass ich das nicht getan habe [...] Doping gehört einfach nicht zum Sport, fertig … Mit dem Wissen von heute, wenn einer zu mir kommen würde und sagen würde, ‚ich hab da was, das kann man nicht kontrollieren‘, würde ich den sofort anzeigen, ganz klar."

... über seinen Entschluss, sein Leben in einer Doku-Reihe zu erzählen

"Der Punkt war, dass ich vor fünf Jahren ja diese extreme Lebenskrise, diesen extremen Lebensabsturz hatte - und den ich gerade so überlebt habe. Aber ich habe dann umgeschaltet, ich habe mich fürs Leben entschieden. Ich musste komplett umdenken, wie es so weit gekommen ist, was ich jetzt überhaupt noch im Leben will, was ich erwarte vom Leben. Und da kam ich dann, nachdem ich mich zwei Jahre wieder körperlich und auch mental gestärkt hatte, zu dem Entschluss: Ich muss mit meinem Leben noch mal richtig ins Reine kommen. Ich muss auch mal das aussprechen, was mir auf der Seele liegt. Ich habe gesagt, ich gehe noch mal in meinem Leben komplett zurück bis in die Kindheit und arbeite meine ganzen Dämonen auf, die ich nicht rausgelassen habe - damit nicht wieder so etwas passiert wie 2018."

... zur Frage, wie sauber der Radsport heute ist

"Ich bin seit vielen Jahren nicht mehr so dicht dran. Aber meine persönliche Meinung ist tatsächlich, dass es viel, viel besser geworden ist. Und dass dieses verbreitete Doping weg ist. Damals war der Sport im Umbruch, heute hat man einen starken Verband. […] Man hat heute das Strafrecht, es gibt Gefängnisstrafen auf Doping. Es gibt ein viel besseres Trainingssystem. Die sporttechnische Sache ist viel besser geworden [...] Und einen ganz großen Anteil hat bessere Ernährung […] Ich will aber auch daran glauben, dass sie daraus gelernt haben, dass der Radsport sauber ist."

... über die kommenden Jahre und seine Ziele

"Ich habe viele Jahre tatsächlich verloren. Schöne Jahre. Jahre, in denen die Kinder noch kleiner waren. Dem trauere ich schon hinterher. Das ist aus meinen persönlichen Fehlern, aus meiner persönlichen Schwäche entstanden. Das habe ich mir komplett anzukreiden. Ich versuche, keine weiteren Jahre zu verlieren. Ich glaube auch, dass ich gelernt habe, dass ich zum gesunden Leben kein Alkohol und keine Drogen brauche. […] Ich war ganz oben, ich war ganz unten und jetzt ist für mich die Mitte das Ziel. Mit kleinen Sachen kann man auch glücklich werden."

... zu einer möglichen Zukunft im Radsport

"Ich wäre dafür bereit, dann muss sich der Radsport erst mal öffnen, und vielleicht gibt es ja irgendeine Gelegenheit. Diese Emotion und was ich erreicht habe in Deutschland mit dieser Sportart - das sind ja auch Erfahrungswerte. Für jede Kleinigkeit hat man heute Experten, aber Erfahrungen sind auch Gold wert. Ich glaube, dass ich mich schon einbringen könnte [...] und wenn es nur darum geht, der Jugend oder Kindern meine Erfahrung weitzugeben. Ich habe den Radsport mein Leben lang weiterverfolgt. Ich liebe diesen Sport nach wie vor. Ich dränge mich nicht in den Radsport, ich frag auch nicht nach einer Stelle, oder dass ich irgendwo integriert werden soll. Ich will nur sagen, ich bin wieder offen für alles."

... über seinen "größten Wunsch"

"Ich wäre gerne Profi gewesen in einem dopingfreien Radsport, weil ich glaube, dann hätte sich mein Talent durchgesetzt. Ich hätte gern die Tour de France auch dopingfrei für Deutschland gewonnen."