Fußball | Bundesliga Kopfverletzungen - warum der DFB für temporäre Wechsel plädiert

Stand: 15.10.2021 20:00 Uhr

Immer noch begeben sich Bundesligaprofis in Gefahr, weil sie trotz Kopfverletzungen weiterspielen. Der DFB wünscht sich temporäre Wechsel - doch es gibt auch andere Ideen.

Und es passiert doch noch, immer wieder: Bundesligaspieler werden hart am Kopf getroffen, kurz behandelt - und spielen dann weiter. Dabei ist das bekanntlich sehr gefährlich, ein weiterer Kopftreffer könnte sogar lebensbedrohlich sein. Ärzte sprechen da vom seltenen, aber dramatischen "Second-Impact-Syndrome".

Vergangenen Fälle glimpflich ausgegangen

Die problematischen Fälle der vergangenen Bundesliga-Wochen sind glimpflich ausgegangen. Beispielsweise trugen Kölns Luca Kilian und Benno Schmitz, die nach Kopftreffern gegen Frankfurt erst mit Verzögerung ausgewechselt worden waren, nach Vereinsangaben keine schweren Verletzungen davon.

Und Bielefelds Torwart Stefan Ortega blieb in den 30 Minuten, in denen er ebenfalls gegen Frankfurt mit einer Gehirnerschütterung spielte, weitgehend beschäftigungslos. Dadurch hatte er Glück im Unglück, erst nach dem Spiel erhielt er die Diagnose im Krankenhaus.

Mehr Zeit, mehr Befugnis, mehr Technik

Gleich mehrere neue Regeln sollten solche Zwischenfälle eigentlich verhindern. Seit 2014 können die Teamärzte Spieler bei Kopfverletzungen bis zu drei Minuten lang behandeln, ohne dass der Schiedsrichter sie an die Seitenlinie verweist. Ob der Spieler anschließend weiterspielen kann, entscheiden die Mediziner autark, Spieler und Trainer dürfen also nicht mitentscheiden - das ist bei keiner anderen Verletzung so.

Seit drei Jahren bieten zudem Tablets auf der Bank die Möglichkeit, Zusammenstöße noch einmal anzuschauen und so besser einschätzen zu können.

Zusätzliche Auswechslungen bei Kopfverletzungen

Außerdem ermöglicht das für Regelfragen zuständige IFAB (International Football Association Board) seit Januar zusätzliche Auswechslungen bei Kopfverletzungen. Unter anderem die englische Premier League nimmt an dieser Testreihe teil. Die Deutsche Fußball Liga (DFL) verzichtet, weil sie im Gegensatz zur Premier League weiterhin die Pandemie-Sonderregel wahrnimmt mit insgesamt fünf statt der üblichen drei Wechsel.

Reinsberger sieht zusätzliche Wechsel kritisch

Doch selbst dieses üppige Wechselkontingent hat die genannten Fälle nicht verhindert. Der Neurologe Claus Reinsberger hält die zusätzlichen Wechsel bei Kopfverletzungen deshalb nur bedingt für hilfreich. "Denn sie helfen den Ärzten nicht aus dem Dilemma, innerhalb von ein paar Minuten entscheiden zu müssen, ob ein Spieler weiterspielen kann."

Reinsberger hat als Mitglied der medizinischen Kommission des DFB Einfluss darauf, wie der deutsche Fußball mit Kopfverletzungen umgeht. Der Leiter des Sportmedizinischen Instituts der Universität Paderborn plädiert im Interview mit der Sportschau für eine andere Wechsel-Regelung. "Wir haben uns vom DFB so positioniert, dass es toll und medizinisch adäquat wäre, wenn die Mannschaftsärzte und die Teams die Möglichkeit zur Temporary Substitution hätten."

Baseline-Screening besser nutzbar

Eine vorübergehende Auswechslung würde den Zeitdruck für die Ärzte reduzieren. "Sie hätten die Möglichkeit, den Spieler für zehn oder 15 Minuten auszuwechseln, mit in die Kabine zu nehmen, in Ruhe zu untersuchen und dann die Entscheidung zu treffen: Kann er wieder eingewechselt werden oder bleibt er draußen", sagt Reinsberger.

Dann hätten die Ärzte auch genügend Zeit für standardisierte Tests wie den SCAT-5 und weitere neurologische Untersuchungen. Und sie könnten die erhobenen Daten abgleichen mit der Krankenakte des Spielers. Seit 2019 schreibt die DFL vor, dass alle Bundesliga- und Zweitligaklubs vor der Saison in einem sogenannten Baseline-Screening Daten über die kognitiven und koordinativen Fähigkeiten ihrer Spieler erheben.

Aktuell helfen diese Daten bei der Frage, wann ein verletzter Spieler wieder voll trainieren darf. Für einen Abgleich während eines Spiels reicht dagegen die Zeit nicht - zumal die Tests für einen aussagekräftigen Vergleich in einer ruhigen Umgebung, zum Beispiel in der Kabine, durchgeführt werden müssten.

IFAB lehnte temporäre Wechsel ab

Auch die internationale Spielergewerkschaft FIFPRO fordert die Möglichkeit von temporären Wechseln. Aber eine eigens eingerichtete Expertengruppe des IFAB entschied sich Ende 2020 gegen diesen Schritt. Als Grund nannte IFAB-Geschäftsführer Lukas Brud medizinische Aspekte. "Oft zeigen sich die Symptome bei Gehirnerschütterungen erst nach 30 Minuten oder noch später", sagt Brud im Gespräch mit der Sportschau.

Reinsberger sagt, er könne diese Begründung "medizinisch nicht wirklich nachvollziehen. Denn in den allermeisten Fällen schließen sich die Symptome unmittelbar an das Trauma an oder treten wenige Minuten später auf. Dass man das erst nach Stunden sieht, passiert, ist aber die Ausnahme". Brud wiederum betont, dass das IFAB seine Entscheidung basierend auf dem Rat von mehreren Medizinern und Experten getroffen habe. Offenbar gibt es unterschiedliche Ansichten.

Die vom IFAB bevorzugte Variante, die Testreihe mit den zusätzlichen Wechseln, läuft jetzt seit gut zehn Monaten. Für ein erstes Fazit sei es aber noch zu früh, sagte Brud, es mangele noch an Daten.

Neutraler Neurologe an der Seitenlinie

Immer wieder wird auch ein neutraler Neurologe an der Seitenlinie gefordert, wie er in der American-Football-Liga NFL eingesetzt wird. Auch Arminia Bielefelds Stürmer Fabian Klos hat sich im klubeigenen TV jüngst dafür ausgesprochen. Die Vorteile: Der Neurologe ist ein Fachmann für Kopfverletzungen und steht in keinem Abhängigkeitsverhältnis zu einem der Teams. Die Teamärzte dagegen sind meist Sportärzte oder Orthopäden und werden direkt von einem Klub bezahlt. Daraus kann ein Interessenkonflikt entstehen.

Die DFL könnte wohl auch unabhängig vom IFAB einen solchen neutralen Arzt einführen. Doch zu erwarten ist das vorerst nicht. Denn die DFL folgt in medizinischen Fragen dem Rat der medizinischen Kommission des DFB. Und deren Mitglied Reinsberger zählt mehrere Gegenargumente auf.

Zum einen hätten auch neutrale Neurologen das Problem, nicht genug Zeit für die Untersuchung zu haben. Und sie hätten nicht den Vorteil, die Spieler persönlich zu kennen. Reinsberger hält eine neutrale Instanz deshalb nur dann für sinnvoll, "wenn wir das Gefühl haben, dass die Bundesligaärzte ihrem medizinischen Ethos absolut nicht nachgehen. Den Eindruck habe ich aber nicht, im Gegenteil". Die Teamärzte hätten Fortbildungen zum Bereich Gehirnerschütterung bisher engagiert wahrgenommen, sagt Reinsberger.

Speicheltest als Ausweg?

Möglicherweise sorgt die Forschung für eine Lösung des Problems. Reinsberger sagt, er hoffe, dass es in fünf bis zehn Jahren einen Test am Spielfeldrand gebe. So forschen zum Beispiel Neurowissenschaftler der Universität von Birmingham an einem Speicheltest und haben im März vielversprechende Ergebnisse veröffentlicht. Ein entsprechender Schnelltest könnte dann nicht nur die Bundesligaprofis schützen, sondern auch die zahlreichen Amateursportler, die sich beim Fußballspielen oder bei einer anderen Sportart am Kopf verletzten.