Skispringer und der Kampf mit den Kilos Erfolg im Skispringen – eine Frage des Gewichts?

Stand: 31.12.2021 09:39 Uhr

Das Skispringen und die Debatte um das Gewicht - nicht nur durch den Saisonverzicht von Top-Athletin Lundby flammt das Thema immer wieder auf. Eine Regel zur Gewichtsreduktion hat ihren Zweck mittlerweile verloren. Beim Deutschen Skiverband (DSV) sieht man keinen Handlungsbedarf.

Skispringen und geringes Gewicht – das gehört irgendwie zusammen. Seit Jahren schon. "Für jede Sportart gibt es bestimmte Gesetze. Beim Skispringen gilt es, so leicht wie möglich und trotzdem kräftig zu sein", sagt Sportschau-Experte Sven Hannawald. Deutschlands Skisprung-Pionierin Ulrike Gräßler erklärt: "Man sagt, jedes Kilo fliegt mit."

Lundby-Pause lässt Gewichtsproblematik aufkochen

Zum international beachteten Gegenstand wurde das Thema mit der Waage, als sich Maren Lundby, die Seriensiegerin der vergangenen Jahre, im Herbst entschied, in der Olympiasaison eine "kilobedingte" Pause einzulegen. Um weit zu fliegen, ist das Gewicht eine Konstante, die passen muss. Bei Lundby passte sie nicht.

Die Seriensiegerin ist immer noch schlank, aber "zu dick", um in der Weltelite mitspringen zu können. Statt zu hungern, entschloss sie sich zum Saisonverzicht. Sie wolle damit ein Zeichen setzen gegen unverantwortliche Fremdbestimmung über den Körper. Kompromisslose Gewichtskontrolle sollte "kein Thema" sein: "Damit kannst du alles zerstören", sagte sie unlängst.

Hüttel: "Unsere Athletinnen und Athleten sind gesund"

Zerstört die Gewichtsreduktion das Skispringen? Nein, widerspricht Horst Hüttel, Teammanager für die Disziplinen Skisprung und Nordische Kombination beim Deutschen Skiverband im Gespräch mit der Sportschau energisch: "Unsere Athletinnen und Athleten sind gesund." Allein das Gewicht sorge nicht für Topleistungen. "Es ist ein Faktor von vielen, die wir im Gesamtprozess der Leistungsentwicklung im Auge haben", so Hüttel. Ulrike Gräßler stimmt zu: "Nur Leicht-Sein funktioniert beim Skispringen schon lange nicht mehr."

Verschärfung der Regeln?

Die achtfache WM-Medaillengewinnerin Daniela Iraschko-Stolz sagt mit Blick auf zahlreiche untergewichtige Skispringer der frühen 2000er Jahre: "So extrem und aktuell, wie es schon einmal war, ist das Gewichtsthema nicht." Und trotzdem hat sich das Skispringen in den vergangenen Jahren in eine Richtung entwickelt, die ungesunde Gewichtsreduktion bei Skispringerinnen und Skispringern möglicherweise sogar ungewollt unterstützt: "Es gehört überdacht, ob man eine Verschärfung der Regeln vornimmt."

Daniela Iraschko-Stolz

Daniela Iraschko-Stolz

BMI-Regel: FIS-Strafe wird zum Vorteil

Die Regeln, die Iraschko-Stolz meint, wurden vom Ski-Weltverband FIS einst eingeführt, um Springer und Springerinnen zu schützen. Seit der Saison 2004/05 gelten Gewichts-Untergrenzen, die sich zunächst an den Vorgaben der Weltgesundheits-Organisation WHO und dem sogenannten Body Mass Index (BMI) orientierten. Diese Regel wurde immer wieder angepasst, die aktuelle Version sieht vor, dass Springer und Springerinnen zusammen mit ihrem Anzug einen BMI von 21 haben dürfen. Wer leichter ist, wird sanktioniert. Die Sanktionen der FIS sehen eine Verkürzung der Ski vor. Und genau da liegt ein Problem. Denn das Skispringen hat sich verändert. Und durch Stabbindungen, Keilen in den Schuhen und flexiblen Schuhen ist man mit kürzeren Skiern aktuell sogar stabiler in der Luft und kann weiter springen. "Jetzt ist man darauf gekommen, dass man mit den kürzeren Skiern geplanter springen kann. Dadurch hat man einen Vorteil, wenn man leichter ist", sagt die 38-jährige Iraschko-Stolz.

Weniger Gewicht + weniger Ski = größere Weite

Um es konkret zu machen: Die Skier eines Athleten oder einer Athletin mit 1,60 Meter Körpergröße und einem BMI von 21 dürfen laut einer FIS-Tabelle 2,29 Meter lang sein. Mit einem BMI von 18,25 werden Ski mit einer Länge von 2,14 Metern vorgegeben. Zur Einordnung: Laut WHO wird ein BMI von weniger 18,5 als gesundheitsgefährdendes Untergewicht eingestuft. Und bei dem hier zitierten FIS-BMI von 18,25 gehen die Sportler und Sportlerinnen ja mit Anzug auf die Waage. "Die Regel mit dem BMI war ein guter Versuch. Am Anfang hat es auch gut funktioniert", blickt Gräßler zurück: "Aber das Material hat sich extrem verändert."

Gräßler: "Neue Formel finden"

Sowohl Iraschko-Stolz als auch Gräßler plädieren dafür, die BMI-Regelung der FIS noch einmal anzupassen. "Man sollte eine neue Formel finden", sagt Gräßler und schlägt vor: "Zum Beispiel, dass man kürzere Ski springen darf, dabei aber nicht mit dem Gewicht runtergehen muss."

Hannawald: "Hillsize verändern"

Iraschko-Stolz plädiert zudem dafür, bei jeder Skilängenverkürzung automatisch auch den Abstand zwischen Skibindung und -spitze zu verringern: "Würde man diese Vorderskilänge kürzen, wären kürzere Ski wieder ein Nachteil." Hannawald, der selbst in seiner aktiven Zeit für Untergewichts-Diskussionen sorgte, warnt vor einer Veränderung der BMI-Regel: "Wenn man den BMI höher setzen würde, würde es noch dramatischer. Dann würden die Frauen noch schneller in den Hang kommen. Und es bröselt noch mehr auf den Knochen", beschreibt der einstige Vierschanzentourneesieger recht plastisch. Für das Frauen-Skispringen könne sich der gebürtige Sachse vorstellen, "die Hillsize zu ändern, die Frauen kommen mit mehr Geschwindigkeit in den Hang, haben aber nicht die körperlichen Voraussetzungen der Männer." Durch die Veränderung des Hillsizes würden sich die Weiten verringern und damit die Verletzungen abnehmen, so Hannawald. Einen Vorschlag, den Gräßler und Iraschko-Stolz allerdings einmütig ablehnen.

Skispringen in Klingenthal

"Habe versucht, beim Gewicht ans Limit zu gehen"

Ganz unterschiedlich dagegen die Erfahrungen von Iraschko-Stolz und Gräßler bei der Gewichtskontrolle. "Ich habe Glück mit den Genen. Ich habe keine Probleme, leicht zu sein", beschreibt die 1,63 Meter große Österreicherin. Ex-Skispringerin Gräßler, die zwölf Zentimeter größer ist, sagt: "Ich habe immer versucht, beim Gewicht ans Limit zu gehen. Das fiel mir nicht extrem schwer, aber auch nicht gerade leicht. Es gab gerade zu Beginn auch Phasen, da hieß es einfach, so schnell wie möglich abzunehmen." Erst im Laufe der Zeit habe die Sächsin für sich herausgefunden, dass es ihr besser ging, wenn sie am Abend noch Kohlenhydrate zu sich genommen habe: "Dann konnte ich besser schlafen und habe keinen Heißhunger bekommen." Mit den Jahren sei die Unterstützung des Deutschen Skiverbandes auch größer geworden. "Jetzt arbeitet man mit Ernährungsberatern zusammen, die dann auch schauen, dass ausreichend Nährstoffe hinzugefügt werden."

Skiverband: Medizincheck und Ernährungsberater

Auf diese Unterstützung der Athletinnen und Athleten bei der Ernährung legt Horst Hüttel viel Wert. Ernährungsberater bei Lehrgängen und ein eigener Koch für die Nordischen Kombinierer während der Weltcup-Tour sollen helfen, dass die Sportler gesund bleiben. "Der Hochleistungssportler bewegt sich in vielen Bereichen am Limit. Unsere Athleten werden zwei Mal im Jahr sorgfältig von den Teamärzten medizinisch durchgecheckt und haben mit speziellen Ernährungsberatern permanent Ansprechpartner zur Verfügung", so Hüttel.

Hüttel: "Gesunde Menschen ins 'normale Leben' schicken"

Der Verband schaffe dabei bewusst ein Angebot für die Aktiven und gehe proaktiv mit diesem Thema um, "sonst suchen die Sportler ihre eigenen Wege und das muss nicht immer zielführend sein", betont der Teammanager und ergänzt: "Wenn die Athleten ihre Laufbahn beenden, wollen wir gesunde Menschen ins 'normale Leben' zurückschicken."

Die Ernährung werde individuell auf jeden Athleten abgestimmt. Dafür werden Blutbilder erstellt, erläutert Hüttel. Im Grunde sei es aber gar nicht so kompliziert: Letztendlich kommt eine fett- und zuckerreduzierte Mischkost mit sehr viel Salat und Gemüse auf den Teller der deutschen Skispringerinnen und Springer – auch Fleisch und Kohlenhydrate stehen auf dem Speiseplan, aber im reduzierten Maß.

Hat sich Gewichts-Thematik verschärft?

Und was ist, wenn eine Springerin oder ein Springer auffallend untergewichtig erscheint? "Dann suchen wir das Gespräch und gehen auf den Sportler zu. Die Trainer sind angehalten, zu kommunizieren", so Hüttel, der zwölf Jahre lang als Sportlicher Leiter verantwortlich war und auch jetzt als Teammanager nicht feststellen kann, dass sich die Gewichts-Thematik in den vergangenen zwei, drei Jahren verschärft hat: "Ich sehe nicht, dass wir über die gängigen Regelungen hinaus Handlungsbedarf haben – weder als nationaler noch als internationaler Verband."

Hannawald-Lob für Lundby-Entscheidung

Ex-Springer und Sportschau-Experte Sven Hannawald, der einst selbst an die körperlichen und mentalen Grenzen ging, hat zu dem Thema eine klare Meinung. Das Gewicht sei die erste Konstante, die passen müsse, sagte Hannawald. Und so finde er es positiv, dass Lundby nichts verharmlose und unterdrücke. "Sie spricht die Probleme an, um sich zu schützen", so Hannawald in der Sportschau.