Frust bei den Spielern von Werder Bremen (v.l.) Mitchell Weiser, Michael Zetterer, Marco Friedl und Anthony Jung

Datenanalyse im Abstiegskampf Werder Bremens Wackel-Abwehr gefährdet den Klassenerhalt

Stand: 07.12.2023 10:30 Uhr

Werder Bremen droht ein Weihnachtsfest im Bundesliga-Abstiegskampf. Der schlichte Grund: Die Norddeutschen kassieren viel zu viele Gegentore. Das liegt aber nicht nur an den Abwehrspielern, wie die Datenanalyse zeigt.

Von Florian Neuhauss

Die Bremer, die am Sonnabend (15.30 Uhr, im NDR Livecenter) den FC Augsburg empfangen, kennen in ihrer Historie beide Extreme. Bei der Meisterschaft 1988 unter Otto Rehhagel kassierten die Grün-Weißen in der gesamten Saison nur 22 Gegentore. Beim Abstieg acht Jahre zuvor war der Ball noch satte 93-mal im Werder-Tor gelandet.

Doch seit einigen Jahren verbinden Fußball-Fans mit dem SV Werder Bremen grundsätzlich eine schlechte Abwehr. Dazu passt: In 13 Saison-Spielen mussten die Hanseaten insgesamt schon 27 Gegentreffer hinnehmen. Gerade nach dem Abgang von Niclas Füllkrug im Sommer kann die Mannschaft von Trainer Ole Werner nicht mehr so viele Treffer erzielen, um die Gegentorflut (im Schnitt 2,08 pro Spiel) zu kompensieren.

Werder-Abwehr macht viel - aber vieles falsch

Der Blick in die Daten von GSN offenbart die ganze Misere. Zunächst: Es ist nicht etwa außerordentlich schlecht gelaufen - mit 2,07 stimmt der Expected-Goals-Wert der Gegner praktisch mit der realen Bilanz überein.

Werder lässt pro Spiel die zweitmeisten Schüsse des Gegners zu (15,31) und ist genauso bei den gewonnenen Defensivzweikämpfen (59,10 Prozent) wie bei den erfolgreichen Defensivaktionen (61,51 Prozent) Vorletzter des Rankings. Hinzu kommen 13,08 Fouls der Abwehrleute pro Partie (Platz 16).

Das "Expected goals"-Modell

"Expected goals" sind "zu erwartende Tore" und werden anhand eines Datenmodells berechnet, in das eine Vielzahl von Faktoren einfließt - unter anderem von wo auf dem Platz der Abschluss erfolgte, wie der Winkel zum Tor war und wie viele Gegenspieler noch zwischen Ball und Tor standen. Jede Torchance erhält dabei einen Wert zwischen 0 und 1, um die Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, mit der der Ball von diesem Punkt aus im Tor landet. "Expected goals"-Werte sind so aussagekräftiger als die normale Torschuss-Statistik, die alle Abschlüsse gleich behandelt. GSN hat zur Berechnung mehr als 3 Millionen Tore ausgewertet.

Dabei gibt es einige Zahlen, die die Werder-Defensive in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Bei den geblockten Schüssen (4,85) ist sie gar die beste der Liga. Überhaupt: Der Einsatz stimmt. Ob bei den Balleroberungen, der Anzahl der Zweikämpfe und Defensivaktionen, bei Kopfballduellen und Tacklings sind die Verteidiger im oberen Drittel mit dabei.

Aber diese positiven Werte nutzen nichts, weil sich die Bremer die zweitmeisten Ballverluste der Liga leisten - mehr als 116 binnen 90 Minuten. Bei den Ballverlusten im Mitteldrittel des Spielfelds sind die Hanseaten sogar die Schwächsten in der Bundesliga.

Dreier- oder Fünferkette? Besser wäre Viererkette

Abwehrchef Marco Friedl und seine Nebenleute haben ein hohes Pensum, sind allerdings alles andere als effektiv bei dem, was sie tun. Das liegt jedoch nicht nur an ihrer eigenen Leistung. Vielmehr produzieren auch ihre Vorderleute viel zu viele Fehler, sodass der Druck auf die ohnehin wackelige Abwehr zusätzlich steigt. Mitchell Weiser führt diese Negativstatistik mit über 13 Ballverlusten pro Spiel an, gefolgt von Romano Schmid (mehr als elf), Marvin Ducksch und Jens Stage (beide mehr als neun). Besonders bei Stage fallen die Ballverluste ins Gewicht. Der Däne ist - obwohl eigentlich offensiver - die einzige Absicherung im Mittelfeldzentrum.

Die letzte Reihe, die Friedl meist mit Anthony Jung und Milos Vejlkovic bildet, kommt schlicht nicht hinterher, alle Löcher zu stopfen. Auch wenn sich die beiden Außenbahnspieler im System von Trainer Ole Werner eigentlich in der Abwehrarbeit weit zurückziehen sollen. Ergebnis ist eine latente Überforderung - die wiederum auch bei den Verteidigern immer wieder zu Ballverlusten führt.

Ob man von einer Dreierkette oder einer Fünferkette spricht, sei dahingestellt. Denn laut der künstlichen Intelligenz, die GSN nutzt, sollte Werner lieber auf eine Viererkette setzen, um den Fokus mehr auf die Defensive zu richten.

Kapitän Friedl in dieser Saison kein Anführer

Der Spieler, der in der Abwehr vorangehen müsste, ist eigentlich Friedl. Weist der GSN-Index alle anderen Defensiv-Akteure lediglich als durchschnittliche Bundesliga-Spieler aus, gehört der Österreicher als einziger in den Bereich internationale Klasse (wenn mit 70,87 auch knapp). Das Problem: Mit einem Performance-Score von 56,28 ist der 25-Jährige in dieser Saison unter den etatmäßigen Innenverteidigern mit Abstand der schlechteste. Im Ranking aller Bundesligisten landet er damit nur auf Rang 55.

Was ist der GSN-Index?

Vier-Säulen-Prinzip:

  • 1. "fußballerische Eigenschaften": Technik, Spielübersicht oder der erste Kontakt: Einschätzungen über 130 fußballspezifische Eigenschaften von mehr als 300 Scouts weltweit.
  • 2. "fußballerisches Potenzial": Wo werden Spieler besser, wo stagnieren sie oder entwickeln sich zurück? Ein Algorithmus analysiert Daten aus der ersten Säule und vergleicht Spielertypen.
  • 3. "Performance auf dem Spielfeld": Tore, Pässe, Fouls, Schüsse oder auch Abseitspositionen: die Spiel-Basisdaten und weiterführende Analysen wie "Expected goals" oder "Action scores" werden durch einen Algorithmus in einen übergeordneten Kontext gesetzt - zum Beispiel positionsbezogen.
  • 4. "Spielniveau": Jede Mannschaft oder Liga hat einen Zahlenwert, der ihre Stärke bemisst. Oberliga oder Champions League: Umso höher das Spielniveau des Gegners, desto positiver wirkt es sich auf den GSN-Index aus.

Bewertungs-Skala:

  • 85 - 100: Weltklasse
  • 70 - 85: internationale Klasse
  • 60 - 70: Durchschnitt Bundesliga bzw. der Top 5 Ligen
  • 50 - 60: Durchschnitt 2. Bundesliga
  • 40 - 50: Durchschnitt 3. Liga
  • 30 - 40: Durchschnitt Regionalliga

Zwei GSN-Index-Werte:

  • aktueller GSN-Index: zeigt die aktuelle, allumfassende Qualität eines Spielers basierend auf den Daten der vier Säulen und Algorithmus-Berechnungen.
  • möglicher GSN-Index: Künstliche Intelligenz ermittelt anhand der Daten das bestmögliche, zukünftige Leistungsniveau eines Spielers.

Torhüter-Frage zu Recht heiß diskutiert

Und dann ist da noch die Torwartfrage, die dieser Tage in Bremen heiß diskutiert wird. Werner und sein Trainerteam haben Michael Zetterer auch nach dem Ende der Verletzungspause von Jiri Pavlenka das Vertrauen ausgesprochen. Dass der 31 Jahre alte Tscheche nicht einfach auf seinen Posten zurückkehrte, überrascht nicht. Mit einem Performance-Score von 54,84 belegt er im Liga-Vergleich Rang 17. Allerdings ist Zetterer mit 55,98 auch nur zwei Plätze weiter vorn.

Werder-Keeper Zetterer: "Traum ist in Erfüllung gegangen"

Laut dem Expected-Goals-Modell hätte Pavlenka 13,10 Gegentore kassieren dürfen. In der Realität sind es aber 17. Bei Zetterer stehen den zu erwartenden 8,30 Gegentoren zehn gegenüber. Der drei Jahre jüngere Deutsche hält also besser als sein Kontrahent, ist aber auch weit von konstant guten Leistungen entfernt. Zetterers GSN-Index (61,05) weist ihn zudem nur als unterdurchschnittlichen Bundesliga-Spieler aus (Pavlenka: 67,50).

Transfer-Sommer ohne Verstärkungen für die Abwehr

Im Sommer ging es die meiste Zeit um Nationalstürmer Füllkrug, den es dann tatsächlich kurz vor der Schließung des Transfer-Fensters noch zu Borussia Dortmund zog. Als Ersatz kam der Kolumbianer Rafael Borré. Zuvor hatte Manager Frank Baumann schon mit der Verpflichtung von Naby Keita für viel Aufsehen gesorgt - allerdings haben sich bisher alle Zweifel an diesem Transfer aufgrund von Keitas Verletzungsanfälligkeit bestätigt.

Aber: Über neue Abwehrspieler wurde wenig gesprochen und verpflichtet worden ist keiner. Beim jüngsten 0:2 in Stuttgart standen in der Verteidigung nur Spieler auf dem Platz, die schon in der Zweitliga-Saison 2021/2022 dabei gewesen waren.

Trainer Werner sucht noch immer Stammformation

Dass Trainer Werner mit seinem Kader alles andere als glücklich zu sein scheint, zeigen die permanenten Personalwechsel. Die Konstanz in seinen Aufstellungen ("Squad stability") ist mit 56,33 Prozent extrem niedrig. Werte ab 85 zeigen eine eingespielte Mannschaft. Und die wäre besonders in der Abwehr wichtig.

Aber der Coach hat es auch schwer: einerseits wegen einiger Verletzungen, andererseits durch die Kaderzusammenstellung. Es gibt zu viele gleiche Spielertypen in der Innenverteidigung und keine wirklich starken Außenverteidiger. Selbst in der errechneten optimalen Aufstellung liegt der Wert, wie gut die Spieler zusammenpassen ("Player chemistry"), nur bei 76,37 Prozent. Auch hier wäre ein Wert ab 85 gut.

Im Januar sollte die Sportliche Leitung bei den Transfers den Blick auf die Defensive richten. Wenn Werder, das aktuell mit nur elf Punkten aus 13 Partien lediglich zwei Zähler vor Relegationsplatz 16 liegt, weiter so viele Tore kassiert wie bisher, dann sind es am Ende der Saison über 70. Und mehr waren es in der Bremer Bundesliga-Geschichte tatsächlich nur in jener rabenschwarzen Saison, die 1980 mit dem Abstieg endete.

Dieses Thema im Programm:
Sportclub | 03.12.2023 | 22:50 Uhr