Der belgische Radprofi Remco Evenepoel nach der 20. Etappe der Vuelta.

Evenepoels Vuelta-Triumph Belgiens Trauma-Überwinder und neuer Rundfahrt-Stern

Stand: 11.09.2022 21:01 Uhr

Remco Evenepoel holt im Alter von 22 Jahren gleich beim ersten Anlauf den Gesamtsieg der Vuelta a Espana. Er erwies sich dabei als Meister in vielen Kategorien und erlöst sein Heimatland Belgien von der Schmach, seit 1978 keine große Rundfahrt mehr gewonnen zu haben. Er ist eine Art Universalschlüssel für viele Problemstellungen.

Von Tom Mustroph

Remco Evenepoel hatte bei dieser Vuelta alles im Griff. Als ihm im Zielbereich die eigenen Fans zu laut wurden, deren "Remco, Remco"-Sprechchöre massiv in die Interview-Zone herüberschallten, rief er zu seinen Bewunderern herüber: "Macht mal leiser, ich kann die Fragen der Journalisten gar nicht verstehen." Der Lärm ebbte auch ab, ganz so, wie sich auch die Konkurrenz an die Überlegenheit des Radprofis aus Schepdaal in Belgien gewöhnt hatte.

Nur ein Gegner auf Augenhöhe

Gut, nur einen Gegner auf Augenhöhe hatte Evenepoel bei dieser Spanien-Sundfahrt. Aber der Slowene Primoz Roglic nahm sich durch einen Sturz im Finale der 16. Etappe selbst aus dem Rennen. Der Streit, wer schuld an dem Sturz hatte, entbrannte in den vergangenen Tagen noch einmal. Roglic beschuldigte den Bahrain-Profi Fred Wright, ihm in den Lenker gefahren zu sein. Wright hielt daran fest, seine Linie nicht verlassen zu haben und nicht Schuld am Crash des Slowenen zu sein.

Roglic hatte im Finale dieser 16. Etappe in Tomares, einem Vorort von Sevilla, mutig attackiert und eine Lücke gerissen. Er wurde auch mit der Zeit seiner Gruppe, acht Sekunden schneller als Evenepoel, gewertet. Und sein Angriff war ein Indiz dafür, dass er dem Belgier in den kommenden Tagen das Leben noch so schwer wie möglich machen wollte. Aber die Verletzungen zwangen ihn zum Rückzug.

Das machte Evenepoel die Aufgabe leichter. Für sein Rennfahrerherz spricht, dass er darüber nicht besonders glücklich war. "Ich hätte es gern mit Primoz bis zum Ende ausgefahren. Niemand will, dass ein Konkurrent so ausscheidet", sagte er.

Früh vollendeter Meister in der Rundfahrtkunst

Aber auch mit Roglic im Feld hätte er diese Vuelta wohl gewonnen. Denn in der komplexen Kunst der Rundfahrtgestaltung erwies er sich als früh vollendeter Meister. Im Zeitfahren, seiner Paradedisziplin, war er der eindeutig Stärkste. 48 Sekunden nahm er Roglic, immerhin Olympiasieger in dieser Disziplin, ab. Enric Mas, seinen zweitwichtigsten Rivalen, der in Madrid auch neben ihm auf dem Podium stand, holte er fast ein bei diesem Kampf gegen die Uhr.

In den Bergen startete er ein frühes Feuerwerk. Im Baskenland und in Asturien nahm er Roglic mehr als zwei Minuten und dem Spanier Mas knapp eine Minute ab. Und als er nach einem eigenen Sturz in seinem Angriffsdrang gebremst war und mal die Konkurrenz ziehen lassen musste, verlor er nicht die Nerven.

"Ich habe noch Vorsprung, die anderen müssen weiter Zeit gutmachen. Ich bin auch nicht eingebrochen, sondern konnte mein Tempo fahren und den Schaden begrenzen", sagte er.

Mentale Stärke

Evenepoel bewies Widerstandskraft – für Rundfahrer eine ganz wichtige Tugend. Und er setzte noch einen drauf. Die 18. Etappe gewann er selbst, sein zweiter Tagessieg nach dem Triumph im Zeitfahren bei dieser Vuelta. An diesem Tag war er wieder der Patron. Gemeinsam mit Mas entschied er, doch noch den Ausreißern des Tages hinterherzujagen, um den Tagessieg zu kämpfen und im Duell Mann gegen Mann zu klären, wer der Bessere ist.

"Wir haben gut kooperiert, um nach vorn zu kommen. Und dann gab es ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen uns. Mal attackierte er, mal ich. Ich habe mich dann auf meinen Sprint verlassen und bin jetzt froh, meine erste Bergetappe bei einer Grand Tour gewonnen zu haben", sagte er im Ziel.

Das war auch der Abend, an dem er seine lauten Fans besänftigte. Und an dem er konstatierte: "Ich glaube, ich habe gezeigt, dass ich ein guter Bergfahrer und auch ein guter Rundfahrer bin."

Vom Klassiker zum Rundfahrer

Evenepoel ist damit die Erweiterung seiner Siegespalette gelungen. Dass er ein bärenstarker Eintages-Spezialist ist, wusste man schon vorher. Mit beeindruckenden Solofahrten gewann er Klassikerrennen wie Lüttich–Bastogne–Lüttich und San Sebastian.

Diese Kunst hat er nun auf drei Wochen ausgedehnt. Seine Attackeperiode in Nordspanien bestand aus mehreren Eintages-Bravourritten hintereinander, als er das Hauptfeld schier auseinanderfuhr. Beim Zeitfahren war er ohnehin als Solist unterwegs.

Für Reife bereits in jungen Jahren spricht, dass er danach auf Sparmodus umschaltete. "Ich kann jetzt defensiv fahren", sagte er nach seinem Zeitfahrerfolg. Seine Erfahrung als Linksverteidiger in der belgischen Fußballnachwuchsauswahl mag ihm beim Catenaccio auf dem Rad noch geholfen haben.

Wegen seiner eigenen Sturzblessuren fuhr er wohl noch defensiver als geplant. Als es darum ging, das Rennen wieder in den Griff zu bekommen, war er aber zur Stelle. Physisch und psychisch war er auf der Höhe der Aufgaben.

Er hielt auch dem Druck stand, die schwarze Serie der Misserfolge bei Grand Tours der großen Radsportnation Belgien beenden zu müssen. 44 Jahre, doppelt so alt wie Evenepoel ist, lag der letzte Gesamtsieg eines Belgiers bei einer der drei großen Landesrundfahrten zurück. Damals gewann Johan de Muynck den Giro D'Italia. Von diesem Trauma hat Evenepoel sein Land erlöst. Sich selbst hat er in die Kategorie Rundfahrer katapultiert.

Man darf gespannt sein, wie er sich in Zukunft gegen härtere Gegnerschaft wie die Tour-de-France-Sieger Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard schlägt.