Archivbild: Tadej Pogacar (l.) und Remco Evenepoel bei Tirreno-Adriatico 2022

Lüttich-Bastogne-Lüttich Wunderknabe Evenepoel gegen Dominator Pogacar

Stand: 22.04.2023 10:13 Uhr

Bei Lüttich-Bastogne-Lüttich treffen am Sonntag die beiden Fahrer direkt aufeinander, die die größten Rennfahrer dieser Dekade werden könnten: Der zweifache Tour-de-France-Sieger Tadej Pogacar will seine tolle Frühjahrsform mit dem Ardennen-Triple krönen. Remco Evenepoel hingegen, Titelverteidiger von Lüttich-Bastogne-Lüttich, kommt im Weltmeistertrikot frisch aus dem Höhentrainingslager und stellt das größte Triple-Hindernis dar.

Von Tom Mustroph

Wem Radsport etwas bedeutet, der hat sich diesen Sonntag fest vorgemerkt. Denn erstmals überhaupt findet in dieser Saison das Duell der wohl stärksten Fahrer dieser Generation statt. Noch dazu ereignet es sich auf ganz großer Bühne: bei "La Doyenne", dem Eintagesrennen Lüttich-Bastogne-Lüttich, dem ältesten im Reigen der fünf Klassikermonumente. Dort hat die "Creme des Radsports" sich verewigt, Eddy Merckx etwa, der Fünffach-Gewinner der Tour de France, und auch Bernard Hinault, sein Kollege in dieser Disziplin.

Auch Pogacar und Evenepoel haben es bereits gewonnen, der Slowene im Jahr 2021, der Belgier im Jahr darauf. Beide waren bei ihren Siegen erst 22 Jahre alt. Eddy Merckx war bei seinem ersten Erfolg in Lüttich "schon" 23. Das ist erwähnenswert. Denn als Pogacar in diesem Frühjahr binnen 18 Renntagen zwei Rundfahrten und vier Eintagesrennen gewann und schier unschlagbar schien, da meinte Merckx voller Respekt: "Er fährt so gut. Er kann noch mehr Siege holen als ich. Er fängt ja auch früher an."

Pogacar besser als Merckx?

Spätestens seitdem guckt man vor jedem Rennen, für das Pogacar sich eine Startnummer anklebt, auch gleich nach der Bilanz von Eddy Merckx - und fragt sich: Kann Pogacar dort besser werden?

Im Falle der 258 Kilometer von Lüttich-Bastogne-Lüttich muss man sagen: Ja, er kann. Zwar hat Merckx gleich fünf Mal "La Doyenne" gewonnen - und die vier weiteren Klassikermonumente noch dazu. Aber das Ardennen-Triple, also Siege beim Amstel Gold Race, dem Wallonischen Pfeil und Lüttich-Bastogne-Lüttich in der gleichen Saison, das war ihm nicht vergönnt. Nur zwei Fahrer erreichten das überhaupt: der Italiener Davide Rebellin 2004 und der Belgier Philippe Gilbert 2011. Pogacar aber ist auf bestem Wege dazu. Vergangenen Sonntag gewann er souverän das Amstel Gold Race, am Mittwoch ebenso souverän den Wallonischen Pfeil. Vorher gewann er noch die Flandernrundfahrt, ebenfalls hoch überlegen.

"Ich bin gekommen, um mein bestes Frühjahr zu fahren", hatte er vor ein paar Wochen angekündigt. Das ist ihm gelungen. Weil seine beiden großen Rivalen des Frühjahrs, der Niederländer Mathieu van der Poel und der Belgier Wout van Aert, ihre Klassikerkampagne zur Schonung des eigenen Körpers bereits beendet haben, kann eigentlich nur einer verhindern, dass Pogacar schon im zarten Alter von 24 Jahren etwas erreicht, was nicht einmal Merckx in der gesamten Karriere gelang. Nur Evenepoel steht dem Ardennen-Triple des Slowenen im Wege.

Pogacar ist sich dessen bewusst. "Remco kommt aus dem Höhentrainingslager. Er hat sicher gute Form und ist motiviert. Er zeigte auch schon zu Saisonbeginn, dass er supergut bei den kleineren und kürzeren Anstiegen ist", blickte er auf das Duell voraus. Die vergangenen drei Male, die sie gemeinsam in einem Rennen waren, war jeweils Evenepoel besser. Beim Straßenrennen der WM und dem megaharten Eintagesrennen von San Sebastian war der Belgier ganz vorn, beim WM-Zeitfahren wurde er Dritter, Pogacar nur Sechster. Seitdem hatten die beiden unterschiedliche Rennkalender.

Evenepoel besser als Pogacar?

Bei seinem Ausblick auf die Saison 2023 nannte Pogacar Evenepoel bereits als seinen künftig wohl herausforderndsten Gegner: "Er ist einfach ein guter Fahrer. Ich denke, er hat auch gute Gene. Er sitzt sehr aerodynamisch auf seinem Rad, bringt viele Watt pro Kilogramm auf die Pedale und ist sowohl physisch als auch mental sehr stark. Er ist schwer zu schlagen, vielleicht ist er sogar stärker als ich."

Evenepoel, der frühere Fußballer, dürfte es gern gehört haben. Er gilt seit langem schon als eine Art Wunderknabe. Er ist neben Pogacar wegen seiner Talente sowohl bei Grand Tours wie bei Eintagesrennen jemand, dem eine Karriere wie die von Merckx zugetraut wird. Den zahlreichen Vorschusslorbeeren wurde Evenepoel in der vergangenen Saison mit Siegen bei der Vuelta, bei Lüttich-Bastogne-Lüttich und der WM eindrucksvoll gerecht. Nur drei Fahrern gelang so etwas vorher: dem unvermeidlichen Merckx, dem Franzosen Bernard Hinault und dem Italiener Afredo Binda. Auch Merckx, der seinen Landsmann wegen dessen zuweilen losem Mundwerk mitunter kritisch sah, lobte ihn da.

Vor Lüttich-Bastogne-Lüttich droht Titelverteidiger Evenepoel mal wieder schier vor Selbstbewusstsein zu platzen. "Ich bin bei fast bei 100 Prozent, vielleicht sogar bei 105", sagte er staunenden Reportern, und erklärte dann: "Das ist auch ganz logisch. Ich fahre in zwei Wochen den Giro d’Italia. Da wäre es nicht nur komisch, wenn ich mich jetzt schlecht fühlen würde. Ich hätte auch etwas falsch gemacht."

So viel scheint klar: Während viele Profis sich mittlerweile damit abgefunden haben, um den Platz hinter Pogacar zu fahren, scheut Evenepoel die Auseinandersetzung nicht. Er freut sich sogar darauf, ein Triple-Vermasseler zu werden.