Regeneration | Interview DFB-Experten: "Schlafen nach einem Spiel ist die größte Herausforderung"

Stand: 22.03.2022 19:52 Uhr

Schlafen hat im Leistungssport noch nicht die Relevanz, die das Thema haben müsste. Mirko Dismer als Leiter Performance der DFB-Akademie und der Fitnessexperte Nicklas Dietrich erklären, worauf Sportler beim Schlafen achten sollten, und warum vor einem Turnier der Fußball-Nationalmannschaft die Matratzen geprüft werden.

Sportschau: Herr Dismer, Herr Dietrich, es heißt, Schlaf ist die beste Möglichkeit zur Regeneration. Ist dieser Bereich im Leistungssport lange unterschätzt worden?

Mirko Dismer: Schlaf ist aus unserer Sicht tatsächlich ein Thema, das in den Kinderschuhen steckt, was schade ist. Denn das Thema Schlafen besitzt nicht nur für den Leistungssport, sondern auch die Wirtschaft und die Gesellschaft nicht jenen Stellenwert, den es haben sollte.

Nicklas Dietrich: Schon rein physiologisch ist das Thema enorm wichtig, denn nur im Schlaf können wir die Regenerationsprozesse ansteuern. In der Tiefschlafphase werden z.B. die Hormone ausgeschüttet, die alle Reparaturprozesse im Körper ansteuern. Zusätzlich wirkt sich Schlaf positiv auf die kognitiven Prozesse und das Immunsystem aus. Überspitzt gesagt: Ob ein Spieler nach einem Spiel auf dem Rad sitzt, auf der Faszien-Rolle liegt oder ins Eisbad geht, ist für die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit weniger wichtig als guter Schlaf.

Sportschau: Für den Sportler sind auch die Lern- und Gedächtnisprozesse bedeutsam, die im Schlaf stattfinden, um Verletzungen vorzubeugen?

Nicklas Dietrich: Im Schlaf regenerieren wir sowohl körperlich als auch mental. Beide Aspekte beugen Verletzungen vor. Ich glaube, das ist gar nicht voneinander zu trennen.

Sportschau: Den deutschen Fußball-Nationalspielern sind sieben konkrete Schlaftipps an die Hand gegeben geworden, die von einer dunklen Schlafumgebung reichen bis zum Hinweis, kein Koffein nach 14 Uhr zu konsumieren. Wie sind Sie da vorgegangen?

Nicklas Dietrich: Wir haben zu Beginn erst einmal versucht, Interesse zu wecken. Wenn der einzelne Spieler ein Gefühl entwickelt, dass ihm das helfen kann, ist der erste Schritt getan. Hinter jedem einzelnen Tipp steckt ja ein weites Feld: Bei der Schlafumgebung geht es vom Kissen, der Matratze, der Zimmertemperatur, den Lichtquellen bis zur Geräuschkulisse.

Sportschau: Ein Tipp zu besserem Schlafen lautet, zwei bis drei Stunden vor dem Einschlafen Blaulicht zu vermeiden. Demnach müssten eigentlich die Smartphones abends bei allen aus sein. Wie kriegen Sie das denn bei jungen Fußballprofis in die Köpfe?

Nicklas Dietrich: Wir müssen natürlich mit den Gewohnheiten dieser Spieler:innen-Generation umgehen. Etwa 30 Prozent der Kommunikation bei jungen Männern und Frauen läuft über die digitalen Medien. Das müssen wir respektieren, denn ein wichtiger Punkt für guten Schlaf sind auch die sozialen Kontakte. Aber auf jedem Handy gibt es einen Night-Shift-Modus, um das blaue Licht herauszufiltern. Und wer gerne an der Spielkonsole hängt, dem legen wir nahe, die Konsole etwas früher vor dem Schlafengehen auszuschalten. Zusätzlich stellen wir eine Anti-Blaulichtbrille zur Verfügung. Da sind die Rückmeldungen äußerst positiv.

Sportschau: Es gibt Menschen, die schwören auf ein Glas heiße Milch oder Sauerkirschsaft oder zwei Kiwis vor dem Einschlafen.

Nicklas Dietrich: Man müsste sich wohl 100 Sauerkirschen reinziehen, um seine Menge Melatonin, das Schlafhormon, wirklich signifikant zu steigern. Ich glaube, das hat viel mit Placebo zu tun. Wenn sich jemand aber sehr wohl damit fühlt, vor dem Zubettgehen ein Glas Milch zu trinken, ist das völlig fein. Aber eines darf man nicht vergessen: Am besten ist es, zwei Stunden vor dem Schlafengehen gar nichts mehr zu essen und auch nicht allzu viel zu trinken. Ein leerer Magen-Darm-Trakt ist eines der wichtigsten Signale für das Schlafsystem. Gerade bei Turnieren verbringen die Spieler viel Zeit in fremden Betten.

Sportschau: Geht die Professionalisierung so weit, dass der DFB separate Matratzen anliefert?

Nicklas Dietrich: Das ist tatsächlich ein großes Thema, das wir bei der EURO im vergangenen Jahr angepackt haben. Wir hatten die Kissen vorgetestet und Hilfsmittel, um die Matratzen härter oder weicher zu machen. Bei der Vorbesichtigung ging es auch um Lichtquellen in den Zimmern. Da wird dann eine ganze Checkliste abgearbeitet. Das hat auch bei der Besichtigung für das Katar-Quartier eine Rolle gespielt.

Sportschau: Mit Anna West hat die Nationalmannschaft auch eine Schlafexpertin. Was tut Sie?

Nicklas Dietrich: Wir haben solch eine Expertin mit einem großen Erfahrungsschatz im Fußball lange gesucht. Sie arbeitet mit dem FC Brentford aus der Premier League zusammen, hat Eishockey-Vereine und -Verbände beraten. Sie ist mit einigen Spielern der Nationalmannschaft einen Evaluierungsbogen durchgegangen und hat individuelle Gespräche geführt. Beispielsweise kann es Fußballer viel Schlaf kosten, wenn sie nicht abschalten können, weil sie viel Druck verspüren. Daher ist ein sehr individuelles Coaching, das ähnlich wie die Arbeit des Sportpsychologen über die einfache Datenerfassung hinausgeht, hilfreich.

Sportschau: Ist es eigentlich ein großer Unterschied, ob bei der WM in Katar ein Spiel um 15 oder 21 Uhr angepfiffen wird?

Mirko Dismer: Spätspiele helfen natürlich nicht, um seinen natürlichen Rhythmus beizubehalten. Wenn ich erst um zwei Uhr ins Bett falle, dann noch mal zwei Stunden brauche, um wirklich einzuschlafen, ist das schwierig.

Nicklas Dietrich: Bei der WM in Katar ist es definitiv ein Vorteil, dass keine längeren Flüge warten, dass die Heimreisen auch nach Abendspielen recht kurz sein werden. Wir haben in der Nationalmannschaft die Regel eingeführt, dass wir lieber noch eine Nacht am Spielort bleiben, wenn wir nicht vor 1 Uhr zu Hause sein können. Aber natürlich ist es ein riesiger Unterschied, ob Spiele am Nachmittag oder Abend stattfinden - allein schon durch das Flutlicht, das das Nervensystem zusammen mit dem Geräuschpegel der Zuschauer und dem Geschehen auf dem Rasen eigentlich komplett überfährt. Daher ist das Schlafen nach einem Spiel für viele Fußballer die größte Herausforderung. Körperlich und geistig wieder runterzufahren ist eine Riesenaufgabe.

Sportschau: Entscheiden die Spieler am nächsten Morgen eigentlich selbst, wann Sie aufstehen?

Nicklas Dietrich: Es gibt eine Zeitspanne, in der die Spieler zum Frühstück kommen sollten. Meist am Vormittag sind die Regenerationseinheiten angesetzt, denn die Spieler verpassen sich im Grunde bei einem späten Spiel einen Jetlag. Wenn sie dann bis zwölf Uhr schlafen würden, ist der Rhythmus komplett kaputt. Daher raten wir dazu, etwas weniger zu schlafen, aber diese Zeit durch die oben angesprochenen Maßnahmen effektiv zu nutzen. Ziel ist es, schneller nach dem Spiel schlafen zu können.

Sportschau: Hat eine ausgeschlafene Mannschaft eher Chancen, Weltmeister zu werden?

Mirko Dismer: Es spielt eine Rolle, definitiv, aber ein besserer Schlaf sorgt nicht zwingend dafür, ein Tor mehr zu erzielen. Wir schaffen nur Voraussetzungen für den Erfolg. Darauf wirken viele Faktoren ein – Schlaf ist ein sehr wichtiger, um die letzten Prozente herauszukitzeln. Aber nur durch guten Schlaf habe ich plötzlich keine bessere Fußballmannschaft.

Zur Person

Mirko Dismer, 31, leitet in der DFB-Akademie die Abteilung Performance, Technologie & Innovation. Er spielte selbst Fußball bis in die Regionalliga.

Nicklas Dietrich, 39, arbeitete zunächst bei der TSG Hoffenheim als Athletiktrainer im Profi- und Jugendbereich. Seit September 2015 gehört er als Fitnesstrainer zum Betreuerstab der Nationalmannschaft.