Lea Meyer aus Deutschland (l.) in Aktion beim 3.000 Meter Hindernislauf.

WM-Bilanz Eugene Deutsches Team zeigt sich alles andere als weltmeisterlich

Stand: 25.07.2022 13:51 Uhr

Bei den ersten Leichtathletik-Weltmeisterschaften in den USA hat das deutsche Team überwiegend für negative Schlagzeilen gesorgt. Der Verband kündigte eine "schonungslose Analyse" des enttäuschenden Abschneidens an. Für die Höhepunkte waren fast nur andere Nationen zuständig - allen voran die Gastgeber. Die Bilanz der zehn sportlichen Tage in Eugene, Oregon.

"Athleten aus der ganzen Welt glänzen in Eugene" - mit diesem Satz überschrieben die Organisatoren der ersten Leichtathletik-Weltmeisterschaften in den USA ihre vorläufige WM-Bilanz. Und zielten damit an der Realität ein gehöriges Stück vorbei: Mit nur zwei Medaillen - der goldenen am Schlusstag von Weitspringerin Malaika Mihambo und der bronzenen der 4x100-Meter-Frauen-Staffel - gewann das deutsche Team so wenige wie noch nie in der 39-jährigen Geschichte von Leichtathletik-Weltmeisterschaften.

In Paris 2003, dem bisherigen Tiefpunkt, waren es vier gewesen (einmal Silber, dreimal Bronze). Die deutsche Leichtathletik steckt tief in der Krise. Diese Feststellung ist nicht von der Hand zu weisen, nachdem bereits bei den Olympischen Spielen in Tokio im vergangenen Jahr nur drei Medaillen herausgesprungen waren.

DLV-Präsident Kessing sieht ein "grundsätzliches Problem"

Statt in Eugene mit einem fast 80-köpfigen Team wie erhofft starke sportliche Leistungen in Übersee abzuliefern und damit Werbung und Vorfreude für die Heim-EM in München (15. bis 21. August) zu machen, herrscht nach insgesamt nur sieben Top-Acht-Platzierungen der WM-Athleten des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV), die mit ausschlaggebend sind für die Zuteilung von Fördergeldern vom Bund, vor allem eins: Frust.

Die Verantwortlichen halten auch mit Kritik an den Athleten nicht hinter dem Berg: Der DLV-Vorstandsvorsitzende Idriss Gonschinska kündigte eine "schonungslose Analyse" an. Präsident Jürgen Kessing sprach von einem "grundsätzlichen Problem", das es zu lösen gelte. Es gebe nichts schönzureden. Und Chef-Bundestrainerin Annett Stein sagte in der Sportschau: "Wir sind nicht zufrieden, wir müssen Kritik üben."

München ist für viele der Saisonhöhepunkt

Wie viel Selbstkritik in ihren Worten steckt, wird dabei nicht ganz deutlich. Öffentliche Kritik in Richtung des DLV, man habe im Jahr der Heim-EM in der Kommunikation mit den Athletinnen und Athleten die WM nicht klar als Saisonhöhepunkt benannt, weist Stein jedenfalls zurück: "Wir wollten zweigipfelig unsere Höchstleistung abrufen." Darauf habe man sich auch sehr gut vorbereitet. Der Vergleich mit der Weltspitze sei das eigentliche Ziel. "Beim nächsten Mal werden wir es besser machen."

Eine Reihe von deutschen WM-Teilnehmenden äußerte sich während der WM aber offen zur eigenen Schwerpunktsetzung. Hochspringer Mateusz Przybylko etwa sprach nach seinem verpatztem Finale von der "WM als Zwischenetappe": "Ich freue mich mehr auf München." Und auch für Mihambo ist die EM "heimlicher Höhepunkt" der Saison. Bundestrainerin Stein zeigt für solche Aussagen aus dem DLV-Team in gewisser Weise sogar Verständnis, wenn sie in der Sportschau sagt: "Die Athleten wollen sichtbar sein in ihrem Land."

DLV gibt zweistellige Medaillen-Zahl als EM-Ziel aus

Nun gilt es für die deutsche Mannschaft, den Worten auch Taten folgen zu lassen, sprich: zumindest bei der EM sportlich erfolgreich zu sein, auch wenn das das Abschneiden bei der WM nicht relativieren würde. Eine zweistellige Medaillenausbeute wünscht sich DLV-Präsident Kessing für die Wettkämpfe in München. Bei der EM 2018 in Berlin gab es 19 Medaillen für Deutschland.

Damit das wieder klappt, müssen in München wirklich alle Athletinnen und Athleten ihr Topform abrufen. Dazu zählen auch diejenigen, die vor der WM von einer Coronavirus-Infektion beeinträchtigt oder verletzt waren. Das Fehlen von Leistungsträgern wie Johannes Vetter und Christin Hussong (Speer), Carolin Schäfer (Siebenkampf) oder Jonathan Hilbert (Gehen) hat sicherlich mit zur schlechten DLV-Bilanz in Eugene beigetragen, kann aber nicht als Hauptgrund dafür herhalten.

Stimmung kochte im Hayward Field selten über

Zurück nach Eugene: Die ersten Leichtathletik-Weltmeisterschaften in den USA waren zugleich auch die ersten Weltmeisterschaften in der Provinz. In der traditionsreichen "Tracktown" der Staaten mit ihren nur knapp 180.000 Einwohnern sollten die mehr als 1.700 WM-Athleten aus 179 Nationen Werbung für ihre Sportart machen - doch ob das gelungen ist, wird sich erst noch herausstellen müssen. Zu selten war das Stadion Hayward Field komplett mit 30.000 Zuschauern gefüllt, noch seltener kam dort die ganz große Stimmung auf.

WM im medialen deutschen "Nachtschatten"

Für die öffentliche Wahrnehmung der Weltmeisterschaften in Deutschland bestand das Problem auch darin, dass die allermeisten der 49 Entscheidungen um Gold, Silber und Bronze mitten in der Nacht unserer Zeit stattfanden. ARD und ZDF übertrugen zwar zwischen 2 und 5 Uhr live, ein Großteil der Menschen wird aber erst am Morgen in Radio, Fernsehen oder Internet über das sportliche Geschehen in Eugene informiert worden sein. Live mitfiebern beim Kampf um die Medaillen? Leider weitgehend Fehlanzeige!

Drei Weltrekorde - und ein starkes US-Team

Dabei hätte es tatsächlich viel zu sehen und zu staunen gegeben - wenn auch eben meist nicht von deutschen Athletinnen und Athleten. Sportliche Höhepunkte waren die drei Weltrekorde: Sydney McLaughlin aus den USA blieb in 50,68 Sekunden als erste Frau über 400 m Hürden unter 51 Sekunden, die Nigerianerin Tobi Amusan verblüffte über 100 m Hürden mit fabelhaften 12,12 Sekunden und Stabhochspringer Armand Duplantis aus Schweden steigerte seinen Weltrekord spektakulär auf 6,21 m. Auch die überraschenderweise zwei Auftritte von Allyson Felix, der erfolgreichsten WM-Athletin aller Zeiten, zählen zweifellos zu den Höhepunkten. Dazu kamen jede Menge WM- und Landes-Rekorde sowie Weltjahresbestleistungen.

400 m Hürden: Sydney McLaughlin mit Fabel-Weltrekord

Sportschau

Das US-Team zeigte sich in Eugene furios: Es gewann mit 33 Edelplaketten (13 Gold/9 Silber/11 Bronze) die meisten Medaillen in der WM-Geschichte. Äthiopien, Jamaika und Kenia folgen mit je zehn Medaillen.

Pleiten, Pech und Pannen

Aus dem deutschen Team werden wohl vor allem die kleineren und größeren Dramen in Erinnerung bleiben: Diskuswerferin Kristin Pudenz und Speerwerfer Julian Weber verpassten die erhofften Medaillen im Finale. Die erfolgsverwöhnten Konstanze Klosterhalfen über 5.000 m und Gesa Krause über 3.000 m Hindernis liefen deutlich hinterher, zeigten sich im Anschluss aber auch selbstkritisch. Lea Meyer stürzte im Hindernis-Vorlauf in den Wassergraben. Siebenkämpferin Sophie Weißenberg und Speerwerfer Andreas Hofmann unterliefen bittere Fehlversuche. Und Geher Carl Dohmann kam nach 35 km Gehen als Letzter ins Ziel - 22 Minuten hinter dem Weltmeister.

Erfreuliche Leistungen wie die von den beiden Stabhochspringern Ole Zernikel (Platz 5) und Jacqueline Otchere (Platz 10) oder Zehnkämpfer Leo Neugebauer (Platz 10) gehen in dieser Bilanz fast unter, sollen aber natürlich auch erwähnt werden.

Ehemalige Topstars sorgen sich um deutsche Leichtathletik

Die "Peinlich-WM der deutschen Leichtathleten" ("Bild") ließ auch ehemalige DLV-Topstars nicht kalt. Ob Weitsprung-Olympiasiegerin Heike Drechsler, Hochsprung-Olympiasiegerin Ulrike Nasse-Meyfarth oder Zehnkämpfer Christian Schenk: Sie alle zeigten sich in Interviews peinlich berührt - und richteten ihre Kritik auch gegen den DLV. Weltverbandspräsident Sebastian Coe erwartet ebenfalls eine gründliche Analyse des deutschen Verbandes.

Nasse-Meyfarth kritisierte in der "Welt am Sonntag" die Größe des deutschen Teams. Unter den knapp 80 Athletinnen und Athleten seien einige dabei gewesen, die gar kein WM-Niveau besäßen: "Solchen Sportlern tut man mit einem Start auf dieser großen Bühne doch keinen Gefallen. Misserfolgserlebnisse sind nicht nur deprimierend, sondern können auch eine Karriere beenden, bevor sie begonnen hat."

Nur wenig Zeit bis zu den nächsten Herausforderungen

Nach der WM ist - wegen der Corona-bedingten Umstände - nicht nur unmittelbar vor der EM in München, sondern auch nur ein Jahr vor der nächsten Leichtathletik-WM in Budapest. Und bis zu den Olympischen Spielen 2024 in Paris dauert es nur noch zwei Jahre.

Alle im Deutschen Leichtathletik-Verband tun deshalb sicher gut daran, bei den anstehenden Analysen einmal genau bei Weitspringerin Malaika Mihambo zuzuhören. Sie lieferte in Eugene im richtigen Moment ab, hatte Erfolg - und war hinterher dennoch unzufrieden, weil keine Topleistung herausgekommen war: "Jeder der mich kennt, weiß, dass ich gerne mein Bestes gebe."

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 15.07.2022 | 20:20 Uhr