Nach ARD-Doku "Herr der Heber" Neuer Skandalreport zum Gewichtheben: Weiteren Top-Funktionären droht Suspendierung

Stand: 24.06.2021 09:44 Uhr

In einem unabhängigen Bericht werden schwere Vorwürfe gegen den neu gewählten europäischen Verbandsboss Hasan Akkus sowie gegen den amtierenden Weltverbands-Vize Nicu Vlad erhoben. Nun rückt das Olympia-Aus für die Traditionssportart näher.

Von ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt, Nick Butler, Sebastian Münster

Dreiste Dopingvertuschung, vernichtete Beweismittel, schwere Vorwürfe gegen weitere Top-Funktionäre: Das internationale Gewichtheben muss mehr denn je den Olympia-Ausschluss fürchten. Die zuständige Prüfstelle International Testing Agency (ITA) empfiehlt empfindliche Sanktionen gegen führende Vertreter des Europäischen Heberverbandes EWF sowie des Weltverbandes IWF und stellt der Traditionsportart ein vernichtendes Zeugnis aus. Das ist das Ergebnis eines explosiven Untersuchungsberichts, den die ITA am Donnerstag (24.06.2021) veröffentlichte.

Die in einem Monat beginnenden Spiele in Tokio könnten damit die vorerst letzten für die Sportart sein, die seit der ersten Olympia-Ausgabe der Neuzeit 1896 ununterbrochen zum Programm gehört. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hatte zuletzt mehrfach und noch nach dem erzwungenen Rücktritt des skandalträchtigen Langzeit-Präsidenten Tamás Aján mit dem Ausschluss gedroht, sollten nachhaltige Reformen ausbleiben.

Sperren für Akkus und Vlad

Dem neuen Report zufolge soll Europas türkischer Heber-Präsident Hasan Akkus bei gleich 17 seiner Landsmänner die Dokumentation positiver Tests im Vorfeld der Spiele in London 2012 gefälscht haben. Wegen der Verstöße gegen die Regularien des Weltverbandes stand der türkische Verband damals vor einer vierjährigen Sperre sowie einer hohen Strafzahlung. Doch der damalige Präsident Akkus fälschte einen Brief und behauptete, der türkische Verband selbst sei für die Tests verantwortlich gewesen. So ersparte er seinem Land die Sanktionen. Akkus droht deshalb nun eine vierjährige Sperre.

Gar lebenslange Sperren empfiehlt die ITA für den im vergangenen Jahr zurückgetretenen Heber-Paten Aján und den noch amtierenden Vizepräsidenten Nicu Vlad. Die beiden sollen die Fäden gezogen haben, um der Rumänin Roxana Cocos den Start bei Olympia in London 2012 zu ermöglichen – trotz zweier Verstöße gegen die Doping-Regularien. Cocos holte in London die Silbermedaille. Kurz zuvor waren in einer ihrer Urinproben anabole Steroide festgestellt worden. In einem weiteren Fall hatten DNA-Analysen ergeben, dass sie ihre Dopingprobe offenbar gegen Fremdurin ausgetauscht hatte.

Aján soll Vlad daraufhin gedrängt haben, "irgendwelche Skandale kurz vor den Olympischen Spielen" zu vermeiden und die Rumänin vom Wettbewerb abzuziehen - Cocos trat dennoch an. Erst Ende des vergangenen Jahres wurde Cocos durch Nachtests der Proben aus London 2012 des Dopings überführt und verlor ihre Silbermedaille.

Wahl an EHF-Spitze trotz Vorwürfen in ARD-Doku

Es ist nur der neueste Skandal in einer ganzen Reihe von Enthüllungen, die das Gewichtheben in den rund 18 Monaten seit der Veröffentlichung der ARD-Doku "Geheimsache Doping: Herr der Heber" erschüttert haben. Der ITA-Bericht verstärkt nun Zweifel an der Ernsthaftigkeit, mit der das Gewichtheben für sauberen Sport kämpft. Die ARD-Dopingredaktion hatte Akkus' Vertuschungsversuche zum Teil bereits im Januar 2020 aufgedeckt.

Dennoch wurde der türkische Funktionär kürzlich in die Spitze der EWF gewählt. Der Olympiasieger und mehrfache Weltmeister Nicu Vlad, der derzeit als Ajáns Nachfolger an der Spitze des Weltverbands gehandelt wird, ist als amtierender IWF-Vize mit der Organisation des Anti-Doping-Kampfes betraut.

"Eklatante Vertuschung"

Die Ermittler der ITA, die mittlerweile die Verantwortung für Dopingtests im Gewichtheben hat, haben "ungefähr 146 ungelöste Fälle" zwischen den Jahren 2009 und 2019 untersucht. Dabei seien sie in ihrer Arbeit "behindert worden" durch "breit gefächerte Inaktivität der IWF in den vergangenen Jahren". Dies habe dazu geführt, dass "29 bislang nicht sanktionierte Dopingverstöße nicht mehr verfolgt werden konnten, da diese entweder verjährt sind oder Beweismittel vernichtet wurden".

Dass es soweit kommen konnte, habe an "fehlender administrativer Übersicht, schlechter Dokumentation, chaotischen Verwaltungsprozessen und fehlerhafter Verteilung von Zuständigkeiten" im Weltverband gelegen. Aber auch die "Gleichgültigkeit, Ignoranz, Komplizenschaft und – im schlimmsten Falle – die skrupellosen Vertuschungsversuche der IWF sowie einiger ihrer Mitgliedsverbände" haben das Gewichtheben in seine wohl bisher schlimmste Krise geführt.