Gisli Kristjansson (l.) gegen Lukas Mertens
analyse

Deutschland in der Hauptrunde Nuancen bis zur Weltspitze – wer ist am nächsten dran?

Stand: 18.01.2024 08:42 Uhr

Nach der Niederlage gegen Frankreich muss das DHB-Team bei der Handball-EM direkt nach vorn schauen. In der Hauptrunde warten vier Gegner auf Augenhöhe. Verlieren ist verboten – auch heute gegen Auftaktgegner Island (20.30 Uhr, live im ZDF).

Von Robin Tillenburg (Köln)

In der Rückschau auf die 30:33 (15:17)-Niederlage gegen Frankreich waren sich Experten, Bundestrainer und Spieler schnell einig: Es fehlt an Breite im Kader im Vergleich zu einer Weltklasse-Mannschaft wie Frankreich. Es fehlt etwas Erfahrung, es fehlt ein bisschen Physis, es fehlt etwas Druck aus dem Rückraum. Und trotzdem sei man dran gewesen – bis zur 50. Minute hätte die Begegnung jeden Ausgang nehmen können, erst dann setzten die Franzosen sich ab.

Es waren nur Nuancen, die fehlten. Hier ein Fehlpass an den Kreis, da ein verlorener Zweikampf gegen die körperlich starken französischen Kreisläufer zu viel. Aber es war bei weitem nicht alles schlecht, die Deutschen spielten mit viel Tempo, hatten ein gutes Torwartspiel und schlossen ihre freien Gelegenheiten ziemlich konsequent ab. Gegen ein echtes Topteam.

Deutschlands Hauptrunden-Gegner auf Augenhöhe

Der Schritt zur absoluten Weltspitze, zu der man wohl konstant aktuell die Franzosen, vor allem die Dänen und dann vielleicht noch die Schweden zählen würde, er ist noch nicht gemacht. Aber es fehlt nicht viel. Und das gilt nicht nur für die Deutschen, sondern auch für die anderen vier Teams, gegen die die Mannschaft von Alfred Gislason in der Hauptrunde spielen muss. Keine ist alles überragend, aber alle haben klare Stärken und ein paar Flausen.

Die Kroaten sind gut in Form, haben einige herausragende Einzelspieler, aber in Ivan Martinovic einen wichtigen Akteur verloren und gehen nach dem Remis gegen Österreich mit einem Punkt in die Hauptrunde. Die Österreicher sind eines der Überraschungsteams des Turniers, das die hoch favorisierten Spanier hinter sich ließ. Mit dem Kieler Nikola Bilyk verfügt Trainer Ales Pajovic über einen Top-Akteur, hat aber in der Kadertiefe doch klare Defizite.

Die Ungarn sind physisch eine echte Wucht und ihr Spiel über ihre massiven Kreisläufer ist kaum zu verteidigen. Neben Frankreich sind die Magyaren aktuell der Favorit dieser Gruppe, aber am Ende waren es für die Ungarn eben auch zwei hauchdünne Siege gegen Serbien und Montenegro in Partien, die auch hätten anders enden können.

Island physisch mit Schwierigkeiten, aber pfeilschnell

Und dann sind da die Isländer, deren Offensive um Aron Palmarsson mit großen Vorschusslorbeeren ins Turnier gestartet ist, die aber im letzten Gruppenspiel gegen Ungarn physisch nicht mithalten konnten, 25:33 untergingen und somit genau wie Deutschland ohne Punkt in die Hauptrunde starten.

In der Abwehr hatten die Isländer bisher in Sachen Körperlichkeit enorme Probleme im Turnier, gerade gegen bullige Kreisläufer wie auch Johannes Golla einer ist. Kein anderes der insgesamt zwölf Hauptrundenteams hat so viele Gegentore hinnehmen müssen wie Island, obwohl Torwart Viktor Hallgrimsson eine ordentliche Fagquote vorzuweisen hat. Vorne leistete sich die Mannschaft um die Magdeburger Achse Omar Ingi Magnusson und Gisli Kristjansson außerdem zu viele Ballverluste, die zweitmeisten unter den letzten zwölf Nationen.

Dominik Klein - "Alles machbare Gegner"

Sportschau Handball-EM 2024, 14.01.2024 23:28 Uhr

Island wird ein echter Prüfstein

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Serbien und Montenegro, neben Ungarn die beiden anderen Teams aus der Vorrundengruppe der Isländer, wohl etwas stärker einzuschätzen sind als beispielsweise Nordmazedonien oder die Schweizer, gegen die Deutschland antreten musste.

Und wenn die Isländer es mal schaffen, den Ball zu gewinnen, kontern sie überfallartig - das Rückzugsverhalten, das für den DHB bisher im Turnier wirklich ordentlich war, wird also auf eine harte Probe gestellt werden. So viele fehlgeschlagene Risikopässe an den Kreis wie gegen Frankreich sollten Juri Knorr und Co. sich also nicht erlauben.

Thorsten vom Wege, Sportschau, 17.01.2024 08:58 Uhr

Zwei Niederlagen bedeuten meist: Kein Halbfinale

Im ersten Duell am Donnerstag geht es eben gegen dieses Island. Historisch betrachtet wäre eine Niederlage für beide Mannschaften im Rennen um das Halbfinale fatal, mit zwei Pleiten schafft man es kaum unter die letzten vier Nationen. So war es zumindest bei der vergangenen EM 2022, als alle vier Halbfinalisten nur eine Niederlage auf dem Konto hatten. 2020 schafften es immerhin die Slowenen mit zwei Niederlagen unter die letzten vier, die Deutschen hatten ebenfalls zwei, verpassten das Halbfinale aber.

Verlieren also quasi verboten für die deutsche Mannschaft, die sich in Köln sogar noch auf ein paar Tausend mehr Fans im Rücken freuen kann als noch in Berlin. Zudem wäre eine Pleite gegen das ebenfalls punktlose Island, das Heimatland des Bundestrainers, für den es, wie er am ARD-Mikrofon gestand, natürlich eine ganz besondere Partie ist, doch direkt ein Fingerzeig in die ganz falsche Richtung.

Wo reiht sich Deutschland hinter den Topteams ein?

Das erste Hauptrundenspiel ist für den DHB zusammenfassend vieles: ein emotionaler Abend für den Bundestrainer, ein sportlich ganz wichtiges Spiel um zwei dringend benötigte Punkte, und eine echte Standortbestimmung für den Rest des Turniers.

Über der ganzen Hauptrunde steht für das junge deutsche Team aber ohnehin die Frage: Wo reiht man sich zwischen den Nationen ein, die gerade darum kämpfen, in die Weltklasse vorzustoßen? Wenn die Antwort "ganz vorn" lautet, ist das Halbfinale in dieser ausgeglichenen Gruppe absolut machbar und das Island-Spiel wird darauf einen ersten Fingerzeig geben.