Zerstörte Tribüne des Stadions in Kharkiv auf dem Wittelsbacherplatz in München

Nach der Auftaktniederlage Ukraine bei der EM - der Krieg spielt immer mit

Stand: 17.06.2024 21:52 Uhr

Wenn die ukrainische Nationalmannschaft spielt, steht die große Weltpolitik mit auf dem Platz. Bei der EM spielen die "Blau-Gelben" auch als Hoffnungsträger und Mutmacher einer kriegsgebeutelten Nation. Keine einfache Aufgabe, wie das 0:3 gegen Rumänien zeigt.

Von Raphael Weiss, München

Dmytro Fesenko tanzt ausgelassen auf dem Wittelsbacherplatz in der Münchner Innenstand. Der junge Mann aus der Ukraine trägt ein Trikot seiner Nationalmannschaft, um den Hals einen gelben Schal und in der Hand eine goldene Bierdose. In vier Stunden startet die Ukraine gegen Rumänien in die Europameisterschaft in Deutschland, dem Land, wo Fesenko seit nun 16 Monaten lebt, in einem Containerdorf vor den Toren Münchens.

"Die großen Fußball-Turniere waren für mich immer ein Grund zu feiern", erzählt er und fügt an: "Aber diese EM ist für mich besonders emotional. Ich fühle mich in diesem Moment so verbunden mit meiner Heimat, mit meiner Familie."

Vor fast zweieinhalb Jahren fiel Russland in die Ukraine ein. Seither fallen jeden Tag Bomben auf das osteuropäische Land, sterben jeden Tag Menschen - Soldaten und Zivilisten. Damit Fresenko keiner von ihnen wird, floh er aus seiner Heimat.

Shevchenko erinnert an ukrainische Soldaten

Um an all die anderen zu erinnern, haben sich etwa 800 Ukrainerinnen und Ukrainer vor dem EM-Auftaktspiel versammelt. Um gemeinsam zu feiern und zu trauern. Und um die Welt daran zu erinnern, dass in der Ukraine noch immer Krieg herrscht.

Als Fesenko gerade erzählt, dass in Deutschland schnell Arbeit im Landschaftsbau gefunden hat und seine deutschen Kollegen allesamt die Ukraine bei der EM unterstützen würden, läuft ein kleiner Junge aufgeregt in Richtung der Bühne in der Mitte des Platzes "Sheva! Sheva!", schreit er und zieht mit seinen Rufen eine aufgeregte Menge mit sich.

Andriy Shevchenko hatte sich für die Demo angekündigt und ist nun tatsächlich aufgetaucht. Der ehemalige Weltklasse-Stürmer war ohnehin schon ein Legende in seinem Heimatland. Seit er Präsident des ukrainischen Fußballverbandes geworden ist, ist aus ihm dort ein Held geworden. Hunderte Kameras – von Pressevertretern und Fans – sind auf ihn gerichtet, als er sich aufstellt.

Hinter ihm steht ein Teil der Tribüne des Stadions in Kharkiv, das durch russische Bomben zerstört wurde. "Wir starten heute unser Turnier mit einer Mannschaft auf dem Feld, aber Millionen von Soldaten, die die Ukraine verteidigen. Wir sind alle zusammen", sagt Shevchenko.

Andriy Shevchenko auf dem Wittelsbacherplatz in München

Andriy Shevchenko auf dem Wittelsbacherplatz in München

Ukraine-Coach Rebrov: "Lieben es, in Deutschland zu spielen"

Auch Trainer Serhiy Rebrov betont in Interviews immer wieder die Wichtigkeit, als Nationaltrainer über den Krieg zu sprechen. Auf der Pressekonferenz vor dem Spiel sagte er: "Wir lieben es, in Deutschland zu spielen. Die Unterstützung ist unglaublich. Es fühlt sich immer fast so an, als würden wir zu Hause spielen."

Dass das EM-Eröffnungsspiel in der Münchner Arena sich nicht so anfühlen wird, ist allerdings schon vor dem Anpfiff klar. Das liegt vor allen Dingen daran, dass die rumänischen Fans sicht- und hörbar in der Überzahl sind. Aber auch bei den Fans, die sich mit Deutschlandtrikots zu diesem Duell aufgemacht haben, sind die Sympathien nicht eindeutig verteilt.

Man trifft Menschen, die berichten, Geflüchtete aus der Ukraine bei sich aufgenommen zu haben oder ihnen Sprachkurse zu geben und sich natürlich bei der EM für die Ukraine freuen. Doch die Antworten, die man am häufigsten hört, ähneln der eines Mannes mittleren Alters im weißen EM-Trikot der DFB-Elf: "Ich will einfach Spaß haben, deswegen hat dieser Krieg heute auf mich keinen Einfluss. Ich finde, dass man Fußball und Politik nicht mischen sollte."

Ukrainische Nationalmannschaft: Auf dem Rasen spielt Politik mit

Für Dmytro Fesenko und viele andere ukrainische Fans ist diese Sichtweise ein Luxus, den sie sich nicht leisten können und wollen. Für sie ist diese ukrainische Nationalmannschaft mit internationalen Stars wie Oleksandr Zinchenko, Mykhaylo Mudryk und Andriy Lunin Botschafter und Hoffnungsträger für eine unabhängige Ukraine, ein Stück Heimat. Als die Nationalhymne in der Arena beginnt, schreit Fesenko mit feuchten Augen den Text in Richtung des Münchner Rasens.

"Die politische Bedeutung, die wir für das Land haben, müssen wir nicht ausblenden. Das ist seit zweieinhalb Jahren unsere Realität", sagte Coach Rebrov vor der Partie. Ob es dann doch an der Größe des Moments, an der Last, die Hoffnungen eines ganzen Landes zu schultern, oder der eng gestaffelten Abwehr Rumäniens lag: Auf dem Rasen tut sich die talentierte ukrainische Mannschaft schwer.

0:3 gegen Rumänien: Matvienko bittet Fans um Entschuldigung

Superstar Mudryk bleibt blass, die Spielzüge der Ukrainer wirken ziellos und Torwart Lunin, der Real Madrid durch seine Paraden ins Champions-League-Finale geführt hatte, leistet sich zwei folgenschwere Patzer: ein Fehlpass vor dem Traumtor von Nicolae Stanciu zum 1:0 (29. Minute), ein Griff neben den scharf geschossenen Ball von Răzvan Marin zum 2:0 (53.). Beim 3:0 lässt die Verteidigung Dennis Man bemerkenswert unbehelligt in den Strafraum ziehen und zum frei stehenden Denis Dragus passen (57.).

Rebrov: "Mir tut diese Leistung leid"

Auf der Tribüne beobachtet Fesenko, die ukrainische Flagge um die Schultern, kopfschüttelnd die letzten Sekunden der Partie, in denen die Latte Yaremchuk und der Ukraine den Ehrentreffer verwehrt. War der große Druck Schuld an der Niederlage?

"Ich weiß es nicht. Natürlich ist es schwierig, aber ich fand die Taktik schlecht", sagt er. Weiter unten versuchen ukrainische Fans das Team zu sich zu holen, doch die Mannschaft wagt sich nicht weiter als bis zum Sechzehnmeter-Raum. Einzig Mykola Matvienko geht näher, richtet entschuldigende Gesten an die Anhänger.

"Ich verstehe, warum den Spielern, diese Leistung leid tut. Mir tut sie auch leid", sagte Rebrov nach der Partie: "Es war einfach zu wenig. Wir repräsentieren ein großen Land, ein Land, das seit mehr als zwei Jahren sich verteidigt. In den kommenden Spielen müssen wir wieder auftreten und zeigen, dass wir eine große und starke Nation verteidigen."

Der Druck wird also vor dem kommenden Spielen gegen die Slowakei  und Belgien also nicht kleiner werden. Fesenko wird das Team weiter unterstützen, egal wie es ausgeht, sagt er: "Ich bin einfach nur froh, dass die Ukraine bei der EM spielen kann."