Bayern-Coach Thomas Tuchel an der Seitenlinie.

Schlüsselposition im Mittelfeld "Holding Six" im Fußball - wenn immer nur Magie nicht reicht

Stand: 30.08.2023 21:42 Uhr

Thomas Tuchel wünscht sich für den FC Bayern einen Sechser, der zuerst defensiv denkt, eine "Holding Six". Damit ist er nicht allein. Über die neue Wahrnehmung einer zentralen Position.

Vor einigen Tagen, unmittelbar vor dem Spiel gegen den FC Augsburg, hat Thomas Tuchel ein Interview gegeben. Es war nur ein kurzes Gespräch, aber seine Sätze könnten den FC Bayern noch beschäftigen. "Die Idealvorstellung ist heute Josh und Leon und Konni von der Bank", sagte Tuchel. Josh, das war natürlich Joshua Kimmich, Leon heißt mit Nachnamen Goretzka und Konni, das ist Konrad Laimer. Alle drei, sagte Tuchel, seien sich in ihrer Interpretation der Rolle im defensiven Mittelfeld sehr ähnlich. "So ist das Leben als Trainer. Du spielst mit denen, die du hast, und pushst sie ans Limit."

Am Ende gewannen die Bayern 3:1, es war ein ungefährdeter Sieg, was natürlich mit dem neuen Torjäger Harry Kane zu tun hatte. Er traf doppelt. Einen Mittelstürmer von Format haben die Bayern nun wieder. Mit diesem Transfer wird der Trainer Tuchel, 50, sehr zufrieden sein. Mit der Besetzung seines defensiven Mittelfelds ist er es nicht, zumindest nicht uneingeschränkt.

Gegen Augsburg besetzten Kimmich und Goretzka die beiden defensiven Positionen im Mittelfeld, ihre Stärken waren in diesem Spiel gut zu erkennen. Kimmich hatte die meisten Ballkontakte, er spielte einige schöne Pässe und Zweikämpfe gewann er auch. Das tat auch Goretzka, ihn zog es bei eigenem Ballbesitz immer wieder auch in Richtung des gegnerischen Strafraums.

Tuchel sucht die "Holding Six"

Beide tragen mit ihrem Profil dazu bei, dass die Bayern sich Chancen herausspielen, dass sie Tore erzielen. Aber keiner verkörpert die Art von Mittelfeldspieler, die Tuchel bei den Bayern vermisst. Auch Laimer, der gegen Augsburg nur knapp 20 Minuten spielte und dann auch noch Rechtsverteidiger, ist das nicht.

Einmal, als die Vorbereitung noch lief und die Bayern gerade durch Asien tourten, sagte Tuchel, seiner Mannschaft fehle ein Mittelfeldspieler, der vor allem defensiv denke. Einer, dem es zuerst um Struktur gehe und darum, Tore zu verhindern. Eine solche "Holding Six" finde er im Kader nicht.

Nicht alle beim FC Bayern stimmten ihm zu. Uli Hoeneß sagte Mitte Juli, er sehe da keinen Bedarf. Die Rolle traue er auch Laimer zu. Tuchel sieht das offenbar anders. Er hätte wohl gerne Declan Rice von einem Wechsel überzeugt, das berichteten mehrere Medien übereinstimmend. Aber Rice wechselte lieber zum FC Arsenal.

Rodri, Rice, Casemiro - Leibwächter, die auch Strategen sind

Mit seinem Wunsch nach einer "Holding Six" steht Tuchel vielleicht in München alleine da, im internationalen Spitzenfußball aber befindet er sich in bester Gesellschaft. Es gibt Trainer, die haben ihre Ideallösung für die vielleicht wichtigste Position im modernen Fußball bereits gefunden, etwa Pep Guardiola. Er vertraut bei Manchester City auf den Spanier Rodri, ohne ihn hätten die "Skyblues" eher nicht das Triple gewonnen.

An Rodris Siegtreffer im Champions-League-Finale wird man sich noch lange erinnern, doch es sind nicht die Tore, die ihn ausmachen. Rodri gibt dem Spiel von City Struktur, er gewinnt oft den Ball und verliert ihn selten. Und sein Gespür für Räume ist beeindruckend. Er hält den Künstlern den Rücken frei.

Rodri von Manchester City jubelt.

Rodri von Manchester City jubelt.

Einen ähnlichen Spieler hat nun auch Mikkel Arteta beim FC Arsenal zur Verfügung. Er baut dort um Rice herum ein neues Mittelfeld auf. Überhaupt sind defensive Mittelfeldspieler, an deren Spiel oft nur das Unspektakuläre spektakulär ist, gerade in. Beim FC Chelsea haben sie Moisés Caicedo verpflichtet, ihm trauen sie die Rolle als "Holding Six" zu. Beim FC Barcelona setzen sie auf Oriol Romeu. Real Madrid hat vor einem Jahr Aurélien Tchouaméni für diese Position verpflichtet, und der ist spätestens jetzt, wo der Trainer Carlo Ancelotti auf ein 4-4-2 mit Raute umgestellt hat, unverzichtbar.

Und Manchester United hat Casemiro, er war viele Jahre der vielleicht beste defensive Mittelfeldspieler im europäischen Spitzenfußball, da spielte er noch für Real Madrid. Meistens sah man ihn in Madrid, wie er grätschte, kämpfte, dirigierte. Es war seine Rolle. Für die Magie waren bei Real andere zuständig. Luka Modric nannte Casemiro mal den "besten Leibwächter der Welt".

Manchester Uniteds Casemiro jubelt.

Manchester Uniteds Casemiro jubelt.

Tuchel sagt: "Dann hat niemand ein Problem damit"

So unterschiedlich die Fußballer Rodri, Rice oder Casemiro auch sein mögen, es eint sie doch eins: Ihr Fußball definiert sich nicht über letzte oder vorletzte Pässe, er sieht oft unspektakulär aus und ist doch wichtig für die Struktur einer Mannschaft. Es sind Spieler, wie der Trainer Thomas Tuchel sie in München vermisst.

Nach dem Sieg gegen Augsburg ist Tuchel noch manchmal auf die Sache mit der "Holding Six" angesprochen worden. Er habe nie Forderungen gestellt, sagte Tuchel einmal. Es sei vielmehr eine "numerische Frage", schließlich stünden im Kader mit Kimmich, Goretzka und Laimer nur drei defensive Mittelfeldspieler. Ryan Gravenberch, einen talentierten Niederländer mit feiner Technik, sieht Tuchel in vorgeschobener Rolle. Und bislang scheint er in ihm ohnehin keinen Stammspieler zu sehen.

Am Freitag (01.09.2023) um 18 Uhr schließt das Transferfenster in Deutschland. Bis dahin darf Tuchel hoffen, dass sie ihm den Wunsch nach einem Aufpasser für das Mittelfeld doch noch erfüllen. Es scheint nicht, als rechne er noch damit. Wenn es bei diesen Spielern bliebe, sagte Tuchel, "dann bleibt's so. Dann hat niemand ein Problem damit." Die Frage ist nur, ob das reichen würde für die Bayern, die so gerne mal wieder mehr als nur die Meisterschaft gewinnen würden.