100. Weltcup-Sieg in Killington? Rekordbrecherin Shiffrin peilt Meilenstein an
Ausgerechnet daheim in Killington wollte Mikaela Shiffrin ihren 100. Weltcup-Sieg feiern. Es wäre nur der logische nächste Schritt in einer von Erfolgen und beeindruckenden Quoten gesäumten Karriere.
Es ist mittlerweile mehr als zehn Jahre her, da saß Mikaela Shiffrin, 18 Jahre alt, auf einem Pressepodium in Sotschi und sagte diesen Satz: "Ich wollte hierherkommen, um mein eigenes Wunder zu erschaffen." Einen Tag zuvor war Shiffrin die jüngste Slalom-Olympiasiegerin der Geschichte geworden, ein epochaler Moment - und dann saß sie da in beeindruckender Seelenruhe und beantwortete Frage um Frage. Gab oder gibt es je abgeklärtere 18-Jährige auf diesem Erdball?
Aus Shiffrin sprach schon damals dieses Bewusstsein um die eigene Stärke, das sie ihre gesamte, von Erfolgen gesäumte Karriere begleitet. Die Ski-Welt konnte es damals noch nicht wissen, aber ob des Vorsprungs Shiffrins von mehr als einer halben Sekunde auf die damalige "Grande Dame" des Slaloms, Marlies Schild aus Österreich, doch auch schon erahnen: Dieser Satz steht für die gesamte Ski-Alpin-Karriere von Mikaela Shiffrin: Sie ist schlicht hergekommen, um ihr eigenes Wunder zu erschaffen, um Grenzen und Bestmarken zu verschieben und neue Rekorde zu zementieren - vielleicht sogar für die Ewigkeit.
Felix Neureuther: Mikaela Shiffrin einzigartig
"Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es jemals wieder so jemanden geben wird", sagt der Sportschau-Experte Felix Neureuther. Es ist wahrlich beängstigend, wie sehr Shiffrins Vorhaben in ihrem Berufsleben alle aufgingen. Die US-Amerikanerin ist ja nicht nur die jüngste Olympiasiegerin, sie hat schon im Alter von 16 Jahren ihren ersten Ski-Weltcup-Podestplatz erreicht, mit 17 erstmals ein Weltcup-Rennen und mit 18 Jahren und drei Tagen die erste Slalom-Kristallkugel gewonnen.
Nach dem Sieg in Gurgl am vergangenen Samstag blickt sie auf die fast schon unglaubliche Zahl von 99 Weltcup-Erfolgen zurück. In Killington hätte sie also die 100 vollmachen können. Die Weltcup-Planer der FIS waren gütig und schenkten ihr dazu sogar zwei Chancen: Doch das Unheil nahm beim Riesenslalom am Samstag seinen Lauf. Shiffrin stürzte und musste das Slalomrennen verletzt absagen.
Sich ausgerechnet auf ihrer Heimstrecke in Vermont noch einmal mehr zu krönen, war dann vielleicht auch zu kitschig.
In Vermont ging Shiffrin zur Schule
Dort in der Nähe ging sie zur Schule, auf die Burke Mountain Academy, dort gewann sie bereits sechs Weltcup-Rennen. Ein nie da gewesenes Weltcup-Wunder verhinderte nun ein Sturz. Allerdings gilt eher: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Sobald Shiffrin ihre Verletzung - eine Stichwunde im Bauch - auskuriert hat, wird sie zurückkehren und einen neuen Angriff auf die nächste Bestmarke nehmen.
"Ich hätte nie gedacht, dass jemand mal 100 Siege im Weltcup feiern kann. Und sie wird auch die Einzige bleiben", sagt Neureuther. Und Shiffrin selbst? "Es ist nicht unmöglich. Ich versuche es zu ignorieren. Wenn es passiert, ist es wunderbar." Ein fast schon unerwartetes Understatement - wohl ob der schieren Größe des Triumphs.
Bemerkenswerte Podest- und Sieg-Quoten
Alle anderen großen Skirennfahrer hat Shiffrin mit ihren 99 Weltcup-Siegen ja bereits weit hinter sich gelassen. Hinter ihr folgen die Ski-Ikone Ingemar Stenmark (86) und ihre Landsfrau Lindsey Vonn (82) - die ein Comeback plant. Aber selbst wenn dieses auch erfolgreich wird, wird sie nicht mehr an Shiffrin herankommen. Mit bislang 154 Podestplätzen fehlt Shiffrin nach 273 Weltcup-Starts auch nur noch ein Top-Drei-Ergebnis, um Stenmark an der Spitze dieser Bilanz einzuholen.
In mehr als der Hälfte ihrer Rennen fuhr sie also auf das Podest und mehr als ein Drittel davon hat sie gewonnen - bemerkenswerte Quoten. Und Ausscheider leistet sie sich fast nie - mit Ausnahme der Olympischen Spiele in Peking 2022, als sie ausnahmsweise mal ohne Medaille heimreisen musste. Irgendwie war damals der Wurm drin, sowohl im Riesenslalom, im Slalom als auch in der Alpinen Kombination verfehlte die US-Amerikanerin ein Tor.
Konkurrentin Dürr honoriert Shiffrin als "Ausnahmetalent"
Ihre Konkurrentin Lena Dürr adelte sie jüngst im "Blickpunkt-Sport"-Interview im Bayerischen Rundfunk: "Es gibt in jeder Sportart und zu jeder Zeit, in der sich die Sportler befinden, diese Ausnahmetalente. Dann ist es schon irgendwie schwer, wenn man immer mit so jemandem konkurrieren muss. Aber irgendwie auch cool zu sehen, wir sind unfassbar nah dran und waren auch schon mal vor ihr. Und das große, große Ziel, ist ja auch wieder ganz oben zu stehen."
Besonders dachte Dürr dabei vermutlich an ihren ersten Slalom-Weltcupsieg in Spindlermühle im Januar 2023, als sie Shiffrin im zweiten Durchgang noch schnupfte und ganz nach vorne fuhr. Aber auch da galt: Auf dem Podest stand Shiffrin als Zweite halt trotzdem.
Überragende Technik - trainiert von den Eltern
In dieser Saison hat Shiffrin nun beide bisherigen Slaloms in Levi und Gurgl gewonnen, als besessene Arbeiterin hat sie es wieder einmal geschafft, in Topform aus einem Sommer zu starten. Trainiert für all das hat Shiffrin ihre eigene Familie.
Bis heute reist ihre Mutter Eileen mit ihr durch die Skigebiete der Welt. Sie war gemeinsam mit Vater Jeff, der im Jahr 2020 verstarb, die erste Skilehrerin der Tochter. Vater Jeff hinterließ auch den einzigen kleinen schwarzen Fleck auf Shiffrins Erfolgen: Denn er war 1987 als Anästhesist in einen Blutdoping-Skandal des nordischen US-Skiteams verstrickt.
Vater verstrickt in Dopingskandal 1987
Kerry Lynch holte damals bei der WM in Oberstdorf Silber in der Nordischen Kombination, flog hinterher aber als Doper auf. Jeff Shiffrin soll bei einer Bluttransfusion assistiert haben, er wurde dafür aber nie belangt. "Wenn man unerfahren ist, trifft man manchmal schlechte Entscheidungen. Das hatte großen Einfluss auf die Erziehung meiner Kinder. Wir sind gegen Doping und gegen unfairen Wettbewerb", sagte Jeff einem US-Nachrichtenmagazin.
Auf der Skipiste brachten Eileen und Jeff Shiffrin ihrer Tochter ihre beeindruckende Technik bei, die diese selbst bei schwierigsten Bedingungen anwenden kann. Keine fährt so elegant Ski im Weltcup-Zirkus, keine hat so einen Siegeswillen (Ihr Motto auf dem Helm: "ABFTTB", was bedeutet "Always be faster than the boys") - und keine schien so vorbereitet auf all den Rummel zu sein.
Shiffrin wird mit den Erfolgen immer lockerer
"Es ist bewundernswert, wenn man so im Rampenlicht und so im Fokus steht, dass man trotzdem so bei sich bleibt", sagte Dürr in dem Interview noch. "Sie hat sehr früh gelernt, damit umzugehen und den Weg für sich zu finden. Um dann in den Momenten, wo der Druck für sie von außen groß ist, trotzdem damit klarzukommen." Einst übergab sich Shiffrin vor Aufregung auch mal zwischen zwei Läufen im Slalom, diese Zeiten sind vorbei.
Sie wirkt mit all ihren Erfolgen nun von Jahr zu Jahr immer lockerer, lernte zuletzt am Sportschau-Mikrofon mit Moderator Markus Othmer auch Deutsch - beziehungsweise das Wort "Wahnsinn". Als die Albanerin Lara Colturi und die Schweizerin Camille Rast jüngst neben ihr zum ersten Mal auf dem Weltcup-Podest standen, wies sie ihnen den Weg für die anschließenden Siegerfotos.
Verlobt mit dem Weltklasse-Skirennfahrer Aleksander Aamodt Kilde
Seit 2021 hat sie auch einen Lebenspartner an ihrer Seite, Aleksander Aamodt Kilde, mit dem sie sich 2024 verlobt hat. Die beiden wissen, was der jeweils andere braucht, beide sind Weltklasse-Skirennfahrer, beide gnadenlos auf der Strecke. Auch Kilde errang schon einmal den Gesamtweltcup (Shiffrin fünf Mal!), der 32-jährige Norweger ist derzeit jedoch verletzt, seine Saison war bereits vor dem Start beendet, und so tourt er mit Shiffrin durch den Ski-Zirkus.
Die baut nach und nach ihr Entertainment-Business auf, hat neben schnieken Werbeverträgen neuerdings sogar einen eigenen Instagram-Broadcast-Channel, um über ihr Leben zu informieren. Einen solchen Channel leisten sich sonst vor allem große Vereine, Influencer oder Nachrichtenseiten.
Neureuther fasziniert von der Weiterentwicklung Shiffrins
"Was mich an ihr fasziniert, ist, dass sie in jungen Jahren schon so gut war und sich trotzdem immer wieder neu motiviert und neu erfindet. Sie hätte längst sagen können: Ich habe alles gewonnen und höre auf. Aber sie verbessert sich immer weiter", lobte Neureuther.
So weit, dass sie nun kurz vor der 100-Siege-Schallmauer steht. Wenn sie diese knackt, hat sie sich den Satz für ihr Statement danach schon vor mehr als zehn Jahren zurechtgelegt, als sie so selbstbewusst wie seelenruhig sagte: "Ich wollte hierherkommen, um mein eigenes Wunder zu erschaffen." Er stimmte damals - und er stimmt heute.