Deutsche Aussichten im Olympia-Jahr Eisschnelllauf - drei, vier Tickets und eine Medaillenchance

Stand: 16.11.2021 12:25 Uhr

"Hier wächst die Weltklasse", wirbt die Deutsche Eisschnelllauf- und Shorttrack-Gemeinschaft (DESG) auf ihrer Website für sich und das deutsche Eisschnelllaufen. Nach dem ersten Weltcup der Saison dürften sich die Beobachter der Szene allerdings fragen: "Wo genau?"

Denn die allermeisten deutschen Athletinnen und Athleten reisten ernüchtert aus dem polnischen Tomaszow Mazowiecki ab. Nico Ihle, 2017 noch Vize-Weltmeister, kam in der zweitklassigen B-Gruppe nicht über die Plätze 13 und 15 hinaus. Olympia-Rekordhalterin Claudia Pechstein muss um die Qualifikation für Peking 2022 nach Rang 16 über 3.000 Meter bangen und schrieb später auf Facebook: "Ich möchte mich aufrichtig ehrlich bei Euch für meine 'UNTERIRDISCHE' Leistung entschuldigen."

Die einzige Top-10-Platzierung erreichte Patrick Beckert. Ausgerechnet in der Olympiasaison droht den deutschen Eisschnellläufern ein weiterer Winter in der sportlichen Talsohle.

Scholt: „Überrascht, wie krass der Abstand zur Weltklasse ist“

"Zwei Wochen nach den deutschen Meisterschaften ist es nicht verwunderlich, dass die Deutschen ihr Niveau in Polen nicht steigern konnten", ordnet Sportschau-Experte Ralf Scholt die Ergebnisse von Tomaszow ein.

Schließlich waren die Meisterschaften in Inzell sowie die damit verbundene Weltcup-Qualifikation ein echter erster Saisonhöhepunkt – und ein Leistungsabfall nach einem Höhepunkt normal. "Ich war trotzdem überrascht, wie krass der Abstand zur Weltklasse noch ist. Ich dachte, der Fortschritt der zweiten Reihe wäre schon besser", bilanziert Scholt.

Lichtblicke aus zweiter Reihe der Männer

Doch die zweite Reihe der Männer sendete bei der DM doch positive Signale. So sammelten Fridtjof Petzold, Stefan Emele und Felix Rhijnen mehrere Medaillen. Scholt beobachtete, dass sich das Trio "deutlich weiterentwickelt und einen echten Sprung nach vorn gemacht hat."

Eine Entwicklung, die die 24- und 25-jährigen Petzold und Emele sowie Rijhnen, der nach sechs Jahren auf Inline-Skates zum Eisschnelllaufen zurückgekehrt ist, in Polen aber nicht bestätigen konnten.

"Da lernen sie die brutale Enge in der Weltklasse der Männer kennen. Du kommst mit einem guten Eindruck von den deutschen Meisterschaften und bekommst dann voll auf die Fresse", kommentiert Scholt Rang 33 von Petzold, Platz 22 von Rijhen über 5.000 Meter der B-Gruppe oder die Disqualifikation von Emele über 1.000 Meter. "Da wird es mit Olympia schon sehr eng."

Fragezeichen hinter Top-Sprinter Nico Ihle

Eine schwierige Saison prophezeit Scholt auch dem zweimaligen EM-Bronzemedaillengewinner Nico Ihle. "Er bewegt sich nicht mehr oder noch nicht auf Top-Niveau." Als DM-Fünfter über 1.000 Meter verpasste er die Quali für den Weltcup. Über 500 Meter war er in 35,35 Sekunden deutlich langsamer als bei seiner Inzell-Bestzeit (34,69 Sekunden).

"Auffällig ist, dass Ihle und alle anderen deutschen Sprinter Defizite in der Beschleunigung haben", analysiert Scholt den enormen Zeitverlust schon auf den ersten Metern. "Die ersten 20 Meter sind hochtechnisch. Da haben alle deutschen Sprinter noch ein Entwicklungspotenzial."

Frauen-Nachwuchs: “Keine wird die Olympia-Norm schaffen“

Das Entwicklungspotenzial kann auch der deutsche Frauen-Nachwuchs längst nicht ausschöpfen. "Wenn Du siehst, was in anderen Nationen an Nachwuchs kommt, ist das frustrierend. Die zweite Reihe bei den deutschen Frauen ist noch viel weiter weg als bei den Männern. Da wird keine die Olympia-Qualifikation schaffen", sagt Scholt.

Anna Ostlender, Sophie Warmuth, Leia Marie Behlau oder Josephine Heimerl sammelten bei den deutschen Meisterschaften zwar Medaillen, beim Weltcupauftakt kamen sie aber zumeist jenseits der Top 15 in der B-Gruppe ins Ziel.

Hinzu kommt, dass sich die deutsche 1.500-Meter-Meisterin Michelle Uhrig erst im April an beiden Knien operieren lassen musste und auch Talent Victoria Stirnemann aus einer langwierigen Verletzung kommt.

Situation bei den Frauen ein "Offenbarungseid"

So kommt es, dass Claudia Pechstein und Michelle Uhrig die einzigen sind, die eine Chance auf Rennen in der A-Gruppe und damit auf eine Olympia-Qualifikation haben. "Hinter den beiden gibt es bei den Frauen keinen Mittelbau. Mit großem Abstand zur Weltspitze folgt der Nachwuchs. Und dass Claudia Pechstein in Deutschland immer noch so weit vorn läuft, ist ein Offenbarungseid", sagt Scholt.

Doch auch bei ihr wackelt Olympia. Mit ihrem 16. Platz über 3.000 Meter in Tomaszow verpasste Pechstein die Qualifikation für das 5.000-Meter-Rennen am folgenden Wochenende in Stavanger. Pechstein muss in der B-Gruppe ran und im einzigen 5.000-Meter-Rennen der Saison den Sprung unter  die besten zwölf aller  Starterinnen aus A- und B-Gruppe erreichen. Eine schwere Aufgabe. Schafft Pechstein das nicht, bleibt nur die Chance im Massenstart auf Pechsteins achte Olympia-Teilnahme.

"Nicht geschafft, den Sport sexy zu machen"

Wo liegen die Gründe für die anhaltende Ergebniskrise im deutschen Eisschnelllauf? "Die aktuellen Entwicklungsschritte sind zu klein", so die Kurz-Analyse von Scholt. Positiv an der aktuellen Führungsspitze sei, dass mehr Nachwuchs herangeführt werde. Das habe sich bereits bei den deutschen Meisterschaften gezeigt. Aber: "Sie haben es nicht geschafft, den Sport sexy zu machen."

Durch Querelen um die Besetzung verschiedener Trainerposten oder Auseinandersetzungen mit Athleten sei der Verband permanent in den Negativschlagzeilen gewesen. Rücktritte wie der von Bundestrainerin Jenny Wolf nur drei Monate nach Amtsantritt hätten zudem viel Zeit gekostet. Und der Verband habe es verpasst, die wenigen Erfolge wie EM-Bronze von Joel Dufter oder Top-Weltcup-Platzierungen von Patrick Beckert zu vermarkten. "Da ist zu viel auf Claudia Pechstein ausgerichtet", so Scholt.

Beckert: "In Peking in den Medaillenkampf eingreifen"

Apropos Dufter und Beckert. Sie sind so etwas wie die deutschen Hoffnungsträger. Der 26-jährige 1.000-Meter-Spezialist Dufter hat ebenso die halbe Olympia-Norm in der Tasche wie der 31-jährige Langstreckenspezialist Beckert. Der dreifache WM-Dritte Beckert zeigte mit seinem zehnten Platz in Tomaszow auch die beste Leistung des deutschen Teams.

"Patrick Beckert hat es sehr gut gemacht“, lobte auch Bundestrainer Helge Jasch. Schafft er es in Stavanger über die 10.000 Meter in die Top acht, hat er das Olympia-Ticket sicher. "Ich hoffe, in Peking in den Medaillenkampf eingreifen zu können", blickte der Thüringer erst kürzlich im MDR kämpferisch Richtung Olympia.

Eisschnelllauf-Zukunft nur über Inline-Skating

Das ist die nahe Zukunft. Und die etwas fernere? "Wenn der deutsche Eisschnelllauf wieder international konkurrenzfähig werden will, müssen mehr Inline-Skater an den Sport herangeführt werden", sagt Scholt. "Die Sportler sind leistungsfähig, haben die Technik, sind unabhängig von Eishallen und findest du auch in Darmstadt", verweist er auf die aus dem Hessischen stammenden Stefan Emele und Felix Rijhnen.

In Deutschland seien durch die in der Vergangenheit vorgeschriebene Trennung von Eisschnelllauf und Inline-Skating "Generationen von potenziellen Leistungsträgern verschenkt" worden. International würden schon jetzt in den Top 10 der Eisschnellläufer etwa sieben ehemalige Inline-Skater laufen. "Da ist Potenzial und die Perspektive“, sagt Scholt.