Tennis | Interview Tsitsipas provoziert mit Pausen: "Darauf zu reagieren, ist immer schlecht"

Stand: 03.09.2021 14:10 Uhr

Stefanos Tsitsipas erhitzt mit seinen Toilettenpausen die Gemüter bei den US Open. Mentaltrainer Thomas Baschab analysiert die Situation - und hält Alexander Zverevs Pläne für ungünstig.

Sportschau: Stefanos Tsitsipas nimmt sich auffallend häufig Auszeiten in engen Spielphasen - etwa in Cincinnati gegen Alexander Zverev, jetzt bei den US Open gegen Andy Murray und Adrian Mannarino. Seine Toilettenpausen waren bis zu neun Minuten lang. Wie beurteilen Sie sein Verhalten?

Thomas Baschab: Ich habe nicht mit ihm gesprochen und kenne die exakten Hintergründe nicht. Aber die Zeiten deuten doch weniger auf eine schwache Blase hin, sondern eher auf eine schwache Phase im Spiel.

Wenn der Gegner gerade gut im Rhythmus ist und man selbst nicht, ist es schon länger gebräuchlich, sich Auszeiten zu nehmen, um dem Gegner den Rhythmus zu nehmen. Das ist in der Tenniswelt hinter vorgehaltenem Mund kein Geheimnis.

Sportschau: Was bewirkt so eine künstliche Pause beim Gegner?

Baschab: Man wird körperlich kalt, hat wenig Bewegung und kann das schlecht mit gymnastischen Übungen anfangen. Außerdem kommt man zum Nachdenken - und das ist erwiesenermaßen eher kontraproduktiv.

Ein Beispiel: Wenn der Gegner einen guten Aufschlagrhythmus hat und man ihn dann fragt: "Sag mal, wie machst du das?" Dann denkt der Gegner darüber nach - und trifft den Aufschlag eben nicht mehr so gut. Brad Gilbert hat in seinem Buch "Winning Ugly" viele solcher Tricks beschrieben. Und er hat sie auch selbst angewandt in Ermangelung anderer Fähigkeiten.

Sportschau: Wie sollte sich ein Spieler denn möglichst verhalten, wenn ein Gegner wie Tsitsipas mal wieder Richtung Toilette verschwindet.

Baschab: Erst einmal kann man nichts daran ändern und muss es mental akzeptieren. Dann ist es wichtig, keine Gedanken zu fassen wie: "Wenn der wieder rauskommt - dann erst recht!" Denn dann reagiert man und genau das will der Gegner provozieren.

Man sollte möglichst gar nicht reagieren und bei sich bleiben. Ich würde einem Spieler raten, während dieser Zeit mentale Übungen zu machen, zum Beispiel einfache Visualisierungen oder andere Techniken. Und vielleicht ein paar körperliche Übungen, um warm zu bleiben.

"Wenn ich reaktiv bin, bin ich nicht in meiner besten Kraft"

Sportschau: Andy Murray hat es im Erstrundenmatch von New York genau anders gemacht. Er hat sich schon während der Pause aufgeregt und diskutiert.

Baschab: Zu reagieren, ist immer schlecht. Denn dann zeige ich ja, dass ich getroffen bin, dass der Gegner etwas machen konnte mit mir. Als Spieler bin ich lieber in einer proaktiven Situation. Wenn ich reaktiv bin, bin ich nicht in meiner besten Kraft, nehme mich aus der Verantwortung heraus.

Sportschau: Alexander Zverev hat angekündigt, beim nächsten Mal auch auf die Toilette zu gehen, wenn Tsitsipas das tut, und dann erst nach ihm wieder auf den Platz zu kommen. Ist das eine gute Idee?

Baschab: Wenn ich etwas für falsch und unfair halte und mache das dann auch falsch, dann ist das nicht der beste Umgang. Das Beste wäre, völlig gelassen zu bleiben, bei mir zu bleiben, mich in der starken, proaktiven Situation zu halten.

Nach dem Spiel kann ich dann die öffentliche Diskussion aufgreifen, wie sinnvoll und okay es ist, wenn das einer so regelmäßig macht wie Tsitsipas in letzter Zeit. Dann wird das schon als taktisches Mittel auffällig. Vielleicht reagiert dann ja auch Tsitsipas darauf.

"Ein Arschloch zu sein, zahlt sich nicht aus"

Sportschau: Tsitsipas erntet tatsächlich immer lautere Kritik vonseiten seiner Gegenspieler. Er selbst sagt, es sei nicht seine Priorität darüber nachzudenken, wie sich sein Gegner während des Spiels fühle. Ist ihm wirklich egal, wie seine Kollegen über ihn denken? Gehört das zur Tenniswelt?

Baschab: Das glaube ich nicht. Natürlich haben alle Topsportler auf diesem Niveau einen recht hohen Ego-Anteil, sonst wären sie da wahrscheinlich nicht hingekommen. Ich glaube aber, dass es immer besser ist, mit anderen Menschen in Frieden zu sein. Denn alles andere ist der eigenen Situation nicht zuträglich.

Das beste Gegenbeispiel ist Roger Federer. Er war viele Jahre der beste Tennisspieler der Welt und gleichzeitig der beliebteste Spieler auf der ATP-Tour. Wenn man einen sehr stimmigen und persönlichkeitsstarken Charakter hat, wozu auch Wertschätzung und Respekt gegenüber den Gegnern gehören, tut das einem selbst gut. Ein Arschloch zu sein, fühlt sich für niemanden gut an und zahlt sich unter dem Strich auch nicht aus.

Sportschau: Hinzu kommt, dass sich das Publikum verstärkt auf die Seite des Gegners schlägt, wenn sich Tsitsipas eine lange Pause nimmt. Inwiefern wird ihn das zum Umdenken bewegen?

Baschab: Das kann ich nicht sagen, weil ich seinen Charakter nicht kenne. Es gibt natürlich Leute, die aus dieser Situation Stärke ziehen können. Wenn man früher Oliver Kahn Bananen zugeworfen hat, dann hat er anschließend gesagt: 'Bevor ich hier einen Ball 'reinlasse, verrecke ich.' Den hat das getriggert, heiß gemacht.

Andere können darunter zerbrechen, dass sie nicht mehr gemocht werden. Von der Grundenergie her ist es jedenfalls immer besser, das Publikum hinter sich zu haben. Das zeigt sich auch im Fußball: In der Coronazeit gab es plötzlich deutlich mehr Auswärtssiege als jemals zuvor in der Geschichte des Profifußballs. Das war darauf zurückzuführen, dass die Energie des Publikums gefehlt hat.

Sportschau: Tsitsipas bewegt sich mit seinen Pausen innerhalb des Regelwerks, wie er selbst auch immer betont. Würden Sie es als Tennis-Beobachter für sinnvoll halten, die Regeln an dieser Stelle anzupassen?

Baschab: Wenn das alle machen würden, muss man sich gemeinsam fragen: Machen wir vielleicht nach jedem Satz oder alle zwei Sätze eine Pause? Dann ist das gesetzt. Denn es kann ja tatsächlich mal sein, dass man verletzt ist oder auf die Toilette muss. Die meisten Tennisspieler würden sich aber wahrscheinlich gegen diese Pause entscheiden.

Das Interview führte Volker Schulte

Zur Person: Thomas Baschab (60) betreut als Mentaltrainer seit vielen Jahren Spitzensportler, Vereine und Verbände. Im Tennisbereich hat der 60-Jährige unter anderem mit Anke Huber, Florian Mayer und Philipp Kohlschreiber zusammengearbeitet.