Tabellenführer der Handball-Bundesliga Warum die Füchse Berlin reif für die Meisterschaft sind

Stand: 31.10.2022 17:09 Uhr

Die Füchse Berlin sind nach neun Spielen noch ungeschlagen und Bundesliga-Spitzenreiter. Es ist ein Erfolg, für den es gute Gründe gibt - und die machen auch den großen Coup denkbar. Aber es gibt auch personellen Sprengstoff. Von Johannes Mohren

Neun Spiele, acht Siege, ein Remis: Nach einem Top-Start führen die Füchse Berlin die Tabelle der Handball-Bundesliga an. Viele Verletzungen beuteln das Team, bremsen die Erfolgsserie aber bislang nicht aus. Es wirkt so, als könne der Klub seine großen Ambitionen - "Wir haben aber durchaus die Chance, nach den Sternen zu greifen" (Geschäftsführer Bob Hanning) - in dieser Saison realisieren. Vier Gründe, die für einen Titelgewinn der Füchse sprechen.

1. Hohe Kader-Qualität

Es war der "Kicker", der vor der Saison zu einem Superlativ griff. Der Kader der Füchse Berlin, so war dort zu lesen, sei "der spannendste der Liga": In der Breite fast ohne Schwachstellen und in der Spitze mit mehreren Spielern, die den Unterschied machen können.

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Genau diese Einschätzung bewahrheitete sich von Beginn an. Es glänzte ein Team, das wenig Qualität verloren, aber jede Menge dazubekommen hatte - im Tor durch Viktor Kireev, in der Abwehr durch Max Darj und in der kreativen Schaltzentrale durch Mathias Gidsel. 'Furiose Füchse' wurde zur medial ebenso oft wie zurecht bemühten Alliteration.
 
Gerade der dänische Superstar Gidsel brachte in den ersten Partien die ohnehin für gehobene Ansprüche aufgestellte Mannschaft - in der Vorsaison Dritter, lange mit Hoffnung auf mehr - noch einmal auf ein anderes Level. Der 23-Jährige wurde nicht nur für Rekordmeister Kiel zum personifizierten Handball-Albtraum. Dass er sich bei der Nationalmannschaft an der Hand verletzte und deshalb seit und für Wochen ausfällt, war ein Schlag für die Berliner. Dass sie diesen - ebenso wie gleichzeitige Verletzungen von Fabian Wiede oder Lasse Andersson - abfedern können, führt zum nächsten Punkt ...

2. Exzellenz im Nachwuchs

... und damit zu einem, wenn nicht dem Verdienst von Füchse-Geschäftsführer Bob Hanning - und gleichtzeitig dem nächsten Superlativ. Der Verein habe ein Netzwerk, das "wohl einzigartig in der Welt" sei, hatte der 54-Jährige schon vor einigen Monaten gesagt. Dieses wurde mit dem Aufstieg des 1. VfL Potsdam - unter der Regie des Trainers Hanning - in die zweite Liga endgültig vollkommen: Denn nun spielen die Füchse-Profis in der Bundesliga, der Brandenburger Kooperationspartner in der zweiten und die Jungfüchse in der dritten Liga.
 
Es ist diese Jugend- und Nachwuchsarbeit, für die Hanning rund um die Uhr ackert und ackert - und die den Berlinern "einen Talente-Pool von rund 60 Spielern" sichert. Von diesem profitieren die Füchse grundsätzlich und nun in personellen Notzeiten erst recht. Das hebt auch Trainer Jaron Siewert hervor. Es sei aktuell ein "Tanz auf der Rasierklinge", sagt er im rbb|24-Interview über die vielen Verletzungen, "aber unsere Jugendarbeit ist hervorragend."

Max Beneke ist so ein Beispiel. Der 19-Jährige spielt aktuell in der ersten und zweiten Liga. Am Wochenende besiegte er erst mit dem VfL Potsdam Großwallstadt, dann trug er für die Füchse Berlin drei Treffer zum hart umkämpften Sieg gegen den Bergischen HC bei. Nils Lichtlein und der - derzeit ebenfalls verletzte - Matthes Langhoff (beide 20) wurden in diesem Jahr fest bei den Profis integriert. Und dann ist da noch Tim Freihöfer. Er hatte in der vergangenen Saison maßgeblichen Anteil am Potsdamer Aufstieg, entwickelte sich dabei selbst im Eiltempo weiter - und ist nun auf Linksaußen bei den Füchsen nicht wegzudenken.
 
"Die Jungs sind einfach Teil des Teams, egal ob sie hier oder bei Potsdam spielen", sagt Siewert. Sie seien komplett integriert "und das halt auch schon seit zwei oder drei Jahren. Das macht uns das Leben leichter, auch auf sie zu bauen. Sie werden reingeschmissen und übernehmen Verantwortung. Es macht Spaß, sie auf der Platte zu sehen."

3. Teamgeist

"Die Stimmung im Team", sagt Tim Freihöfer sei - Achtung, nächste Steigerungsform - "wirklich richtig gut". Jeder komme jeden Tag motiviert zum Training, "wir haben Spaß auf den Auswärtsfahrten und da lässt es sich dann, wenn man auch noch ein paar Siege hat, leichter spielen." Die Füchse sind im Flow. Bei seinem Trainer klingt das ganz ähnlich. "Der Teamspirit, den wir uns über die ersten Erfolge geholt haben, stärkt uns jetzt gerade in unserem Handeln. Und dann gewinnt man auch mal so ein knappes Spiel wie gegen den BHC."

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In dieser Harmonie gibt es aber auch Störgeräusche. Und zwar heftige. Die Reibungen zwischen Verein und Hans Lindberg wegen seines nicht verlängerten Vertrages sind groß - und öffentlich. Insbesondere zwischen dem Dänen und Füchse-Sportvorstand Stefan Kretzschmar soll es brodeln. Nach dem Spiel gegen den Bergischen HC brach es im Interview zum wiederholten Mal aus Lindberg heraus.
 
Auch in dieser Situation ist Hanning gefragt - als Streitschlichter. "Wir haben es so gemacht, wie wir es gewohnt sind, und zwar, dass wir die Dinge intern klären", wird er am Donnerstag in einer Pressemitteilung des Klubs zitiert. "Jetzt hoffe ich, dass wir den Fokus wieder auf die erfolgreiche Arbeit der Mannschaft legen können." Man habe eine "strategische Ausrichtung, für die wir zukunftsorientiert handeln". Aus dieser heraus man die Entscheidung getroffen "und den Spieler rechtzeitig im Oktober informiert".

4. Ambitionierter Realismus

Die Füchse wollen mehr - und machen daraus keinen Hehl. Das Wort "Meisterschaft" gehört zum aktiven Wortschatz. Hanning sieht die Berliner als eine von "vier Mannschaften, die berechtigt von sich sagen können, dass sie um den Titel spielen." Mag das noch vorsichtig klingen, so ist diese Aussage aus demselben "Tagesspiegel"-Interview [Bezahlinhalt] schon deutlicher: "Ich würde nächstes Jahr gerne Champions-League spielen, dafür müssen wir mindestens Zweiter werden. Wir haben aber durchaus die Chance, nach den Sternen zu greifen."
 
Auch Kretzschmar verkörpert diese Ambition. Das Führungsduo will ohne zu viel Understatement zweifelsohne lieber früher als später nach ganz oben. Die Mannschaft hat bisher angedeutet, dass sie das schaffen kann: Mit furiosen Siegen wie gegen Rekordmeister Kiel, aber auch mit hart erkämpften - und nicht weniger wichtigen - Erfolgen wie gegen den Bergischen HC. Da zeigten die Füchse in der Crunchtime die Qualität und Widerstandfähigkeit, die in der vergangenen Saison das ein ums andere Mal fehlte und die entscheidenden Zähler kostete.
 
"Wir bleiben auf dem Boden. Wir müssen jedes Mal hundert Prozent geben, um die Punkte zu holen", sagt Siewert. Tatsachen statt Träume beschäftigen den Trainer. Es sei - bei aller Freude über den guten Start - noch "sehr früh in der Saison". Das klingt in der Wortwahl sehr nüchtern. Aber so macht es fast noch mehr Eindruck, dass auch Siewert in dieser Sachlichkeit am Ende Platz zwei als (Minimal-)Anspruch formuliert. Die Champions-League-Qualifikation sei "das vorrangige Ziel". Ob es für mehr reiche, "werden wir dann sehen".

Sendung: rbb24, 01.11.2022, 18 Uhr