Berliner Kneipe "Yorckschlösschen" (imago images/Christian Behring)

Warum der (moderne) Fußball der Eckkneipe schadet Mehr Bundesliga für alle!

Stand: 16.07.2023 19:31 Uhr

Die Eckkneipe als solche ist eine Berliner Instutition und mehr und mehr bedroht. Warum das eine furchtbare Sache ist, wieso der Fußball Schuld daran trägt und Schlimmeres verhindern könnte. Von Ilja Behnisch

Es gibt so ein paar ungeschrieben Gesetze, an die ich mich möglichst halte, wenn ich einen Artikel schreibe. Niemals mit dem Wetter einsteigen zum Beispiel. Auch: Niemals Taxifahrer erzählen lassen. Und: Niemals Texte aus der Ich-Perspektive, wenn es nicht unbedingt sein muss. Das "erzählende Ich" ist ein "faules Ich". In sich selbst recherchiert es sich doch sehr bequem und, praktisch, aber schlecht, meistens ohne Widerspruch. Nun wird der aufmerksame Leser bereits bemerkt haben, dass das mit der Ich-Vermeidung in diesem Fall schon jetzt nicht sonderlich gut funktioniert hat. Und ich bitte auch um Entschuldigung, ehrlich, aber es lässt sich dieses Mal einfach nicht vermeiden, denn es geht um die Eckkneipe und darum, warum der Fußball sie vielleicht endgültig aus dem Stadtbild verdrängt. Kurzum: Es ist etwas Persönliches.

Host Felix Edeha steht vor Kiez Kneipe in Berlin (Quelle: rbb)
Berliner Kiez-Kneipe kämpft ums Überleben

"Höher’s Eck", eine Kneipe in Prenzlauer Berg, kämpft ums Überleben. Die zuständige Hausverwaltung will offenbar den Mietvertrag nicht verlängern. Kann eine Petition helfen? Was genau dahinter steckt, erfahrt ihr im rbb|24 explainer auf Youtube.mehr

Mindestens die Hälfte aller Eckkneipen sind bereits verschwunden

Wobei ich gleich zu Beginn gestehen muss, ein Problem zu haben, und zwar direkt mit dem Begriff: Eck- oder Kiez- oder einfach nur Kneipe. Die Abgrenzung hin zu anderen Begrifflichkeiten wie Bar oder Lokal ist mir viel zu schwammig. Weshalb an dieser Stelle darauf hingewiesen sein soll, dass das Wort Kneipe auf das mittelhochdeutsche "kneipen" zurückzuführen ist, was so viel wie "zusammendrücken" bedeutet. Womit die Kneipe nur einen Ort meint, an dem Menschen "zusammengedrückt" sitzen. Oder besser: saßen. Denn die Kneipe ist eine vom Aussterben bedrohte Art.
 
Das ist keine sonderlich neue, sondern eher eine gut 15 Jahre alte Behauptung. Weshalb es inzwischen gefühlt mehr Artikel über das Aussterben von Berliner Eckkneipen gibt als Berliner Eckkneipen selbst. Immerhin ist die Behauptung offenkundig auch nicht falsch. Auf "berlin.de" [berlin.de], dem offiziellen Hauptstadtportal des Landes Berlin, findet sich ein Eintrag vom September 2020, in dem zu lesen ist: "Einst gab es an die 20.000 Eckkneipen in Berlin. Gut die Hälfte ist übriggeblieben." Zumindest wer sich im Zentrum der Stadt umschaut, dürfte allerdings auch diese Zahl für überholt erachten.

Der schönste aller Gründe

Das ist der Lauf der Dinge, könnte man nun einwenden und fragen: Was will er denn, was hat er denn? Ganz einfach: Die Kneipe ist ein Wohnzimmer außerhalb der eigenen vier Wände. Für viele sogar mehr als das - eine Familie außerhalb der eigenen Familie. Die Kneipe ist eine tagtägliche Weltreise. Raus aus der persönlichen Enge. In der Kneipe begegnen sich Bauarbeiter und Professoren, Klein und Groß und Rund und Eckig über einem Bierchen und quatschen Dünnes oder sie schütten sich gegenseitig ihr Herz aus. Oder aber, meiner Meinung nach der schönste aller Gründe, um gemeinsam Fußball zu schauen.
 
Ich (Ich!) war nie ein besonders geselliger Mensch. Keine Ahnung warum, ist auch egal, ich will mich hier ja nicht therapieren, sondern nur erklären, was uns allen droht. Jedenfalls wäre ich nie in eine Kneipe gegangen, wenn nicht wegen des Fußballs. Als jüngerer Mensch konnte ich mir kein Bezahl-Fernsehen leisten und schon gar keine regelmäßigen Stadionbesuche. Also ab in die Kneipe, für zwei Bier reichte das Budget. Manchmal auch für mehr, ich schaute ja meist nur die Spiele meines Lieblingsvereins aus Mönchengladbach. Und weil der damals, als ich ein jüngerer Mensch war, zuweilen in der zweiten Liga, aber auf keinen Fall unter der Woche in irgendwelchen europäischen Abenteuern gefordert war, blieb ich manchmal auch für eine dritte Halbzeit.

Späti in Berlin (Quelle: dpa)
Späti-Betreiber kritisieren in Pankow geplantes Stühleverbot

Der Berliner Bezirk Pankow will Stühle und Tische vor Spätis verbieten. Grund seien Beschwerden von Anwohnern über Lärm. Betreiber der Läden sehen das kritisch - und wollen selbst für Ruhe vor ihren Geschäften sorgen.mehr

Bulette, Schmalzstulle und ein Spruch

In die Kneipe, in die ich ging, kamen auch andere Gladbach-Fans aus ganz Berlin. Und auch wenn der Fußball der "Fohlen" nichts dazu tat, kamen auch sie immer wieder. Nie zuvor und nie danach in meinem Leben war ich derart Teil einer Gruppe wie damals. Es war fantastisch. So saß ich Woche für Woche zwischen einem Dreher, einer Konzert-Pianistin und einem Physik-Doktoranden. Und neben und zwischen vielen, tollen und verschiedenen Menschen mehr. Ich mochte wirklich alle. Und ich mag nicht mal mich.
 
Später wechselte ich die Kneipe. Meine Lebensumstände waren nun andere. Ich hatte meine Frau kennengelernt und einen Job bei einem Fußball-Magazin begonnen. Ich hatte jetzt daheim alle Bezahl-Abos die es gab. In der Kneipe schaute ich nun statt der Spiele meiner Borussia die "Konferenz". Statt mit vielen Gladbach-Freunden mit einem besonders guten Freund. Während sich in den Bundesliga-Stadien kleine und große Dramen und Komödien abspielten, über die anschließend ganz Deutschland sprach, besprachen wir die Woche und die Weltlage. Manchmal gab es dazwischen nichts zu unterscheiden. Zum Bier gab es die beste Bulette der Stadt oder eine Schmalzstulle und immer auch mindestens einen Spruch des Wirtes. Überhaupt: der Wirt. Das wäre noch einmal ein eigener Text. Ach was. Ein Roman. Und eigentlich könnte man das über all die Menschen sagen, die es da an Tresen und Stammtisch und runter an die Kegelbahn zog.

Kleiner Exkurs. Eine der vielen legendären Berliner Kneipen ist das Yorckschlösschen in Kreuzberg. Ich war da schon, lange her, guter Ort. Ich hatte aber nie in die Speisekarte geschaut. Dabei hätte sich das gelohnt, wie mir 2015 ein Text im Magazin der Süddeutschen Zeitung verriet. Denn in der Speisekarte des Yorckschlösschens versammelte der Wirt der Kneipe die Spitznamen seiner Stammgäste aus drei Jahrzehnten. Ich zitiere: "Laber-Uwe. Samen-Udo. Socken-Paul. Der Fremde." Seither wünsche ich mir einen eigenen Kneipen-Spitznamen. Auch wenn ich zugleich Angst vor ihm hätte. Wer heißt schon gern Laber-Uwe, Samen-Udo oder Socken-Paul?

Bremer "Eisen" sorgt für Furore

Immerhin, mein Konferenz-Freund und ich, wir hatten unsere Spitznamen für die anderen Gäste unserer Stammkneipe. Bob Dylan. Die Landschaftsgärtner. Zigarre. Wir freuten uns über jeden von ihnen, das aber immer seltener. Vielleicht war es Corona. Vielleicht haben Bob Dylan und die Landschaftsgärtner in der Zeit von Social Distancing erkannt, was wirklich für sie zählt im Leben. Viel wahrscheinlicher allerdings scheint mir, dass der Fußball schuld daran ist. Zuletzt saßen zumeist nur noch fünf Hanseln im Gastraum, wenn die Samstagsspiele liefen. Es ist nicht lange her, da waren es noch 50.
 
Die Bremer Kneipe "Eisen" hat unlängst auf Twitter für Furore gesorgt und für einen Aufschrei über zehntausend Likes erhalten. Das "Eisen" schrieb, es hätte im Monat Juni für Bezahl-Abos 935 Euro zahlen müssen. Ohne auch nur ein Spiel zu zeigen. Kneipen-Abos gelten jahresweise und sind wenig flexibel. Im "Eisen" versammeln sich hauptsächlich Bremen- und St. Pauli-Fans. Im Eisen interessiert sich niemand für die Champions League. Das sei vor zehn Jahren noch ganz anders gewesen. Weil längst die immer gleichen Mannschaften den Titel unter sich ausmachten. Weil diese Klubs oftmals finanziell unterstützt werden von Staaten, in denen die Menschenrechte mit Füßen getreten werden wie ein Ball.

Kein Wunder, dass die Kneipen leer bleiben

Auch die Bundesliga mit ihrem Serien-Meister Bayern München kennt Spannung nur jenseits der Titel-Frage. Auch in der Bundesliga spielen vereinzelt Mannschaften, weil reiche Menschen es so wollten und nicht, weil unzählige Menschen mit Leidenschaft dahinterstehen. Ein Bundesliga-Spieltag hat zuweilen so viele verschiedene Anstoss-Zeiten wie eine Woche Werktage hat. Samstag, 15:30 Uhr, spielen hingegen häufig nur acht von 18 Mannschaften. Oft sind es jene, hinter denen die reichen Menschen stehen, die es so wollten. Kein Wunder also, dass die Kneipen leer bleiben. Leere Kneipen aber bedeuten leere Kassen und bedeuten, dass das Kneipen-Sterben weitergeht. Wenn die Bundesliga nicht aufpasst, stirbt sie ein Stück weit mit. Ich hoffe, es ändert sich was. Denn wie gesagt: Es ist etwas Persönliches.

Sendung: rbb24 Inforadio, 16.07.2023, 22:15 Uhr