Interview | Schiedsrichter-Assistent Jan Seidel "Die Drucksituation bei der WM ist eine andere"

Stand: 22.12.2022 18:11 Uhr

Jan Seidel aus Brandenburg war bei der Fußball-WM in Katar als Schiedsrichter-Assistent des Berliner Referees Daniel Siebert dabei. Ein Gespräch über einen Fußball-TV-Marathon, hitzige Emotionen und die EM 2024 in Deutschland.

Über die Leistung der Schiedsrichter wird im Fußball mindestens genauso intensiv diskutiert wie über die der Spieler. Ein Umstand, mit dem sich auch Jan Seidel bestens auskennt. Der 38-jährige Brandenburger ist als Schiedsrichter-Assistent des Berliners Daniel Siebert in der Bundesliga und sogar in der Champions League unterwegs. In Katar war das Gespann erstmals bei einer WM im Einsatz.

rbb24: Herr Seidel, Sie haben als Assistent von Daniel Siebert in Katar ihr Debüt bei einer WM gefeiert. Wie haben Sie das Turnier erlebt?
 
Jan Seidel: Das Turnier grundsätzlich habe ich als sehr positiv empfunden. Von der ganzen Organisation drum herum, von den Wetterbedingungen natürlich auch. Und das Turnier an sich lief für uns insgesamt auch gut durch, so dass wir zufrieden sein können.

Wie sah denn Ihre Vorbereitung auf Ihre erste WM aus?
 
Wir haben viel im körperlichen Bereich gearbeitet. Es ist so, dass wir schon seit Jahren beim DFB einen Fitnesstrainer haben, der uns da unterstützt, der auch – wenn gewünscht – ein Eins-zu-Eins-Training macht und für jeden Tag eine Einheit plant. Je nachdem, was der Körper benötigt und was die Anforderungen für ein Turnier sind. In Zusammenarbeit mit einer Physiopraxis in Berlin und einem zweiten Physio habe ich dann versucht, einen optimalen Trainingsplan zu entwickeln, der im Sommer gestartet ist. Ab diesem Zeitpunkt habe ich bis zur WM durchgezogen.

Wie sieht der Alltag eines Schiedsrichterassistenten während so einer WM aus?
 
Es war schon gewünscht, dass man so viele Spiele wie möglich schaut. Damit man sich von den anderen etwas abschauen kann, wenn es gut läuft. Dass man auch weiß, was so los ist, worüber diskutiert wird oder was eventuell regeltechnisch interessante Szenen sind. Schon seit Jahren ist es in unserem Team so, dass wir während der Spiele per Handy über heikle Themen diskutieren. Das war auch bei der WM so. Also ich kann sagen: ich habe wirklich jedes Spiel verfolgt. Das habe ich so komplett noch nie geschafft.

Sie haben also jedes WM-Spiel bis zu ihrem Ausscheiden mit Daniel Siebert und dem weiteren Assistenten Rafael Foltyn zusammen analysiert?
 
Genau. Und teilweise auch mit den beiden Videoassistenten, die allerdings oft auch bei anderen Teams unterwegs waren. Unser Team hat sehr häufig zusammen geschaut. Da gab es einen Gemeinschaftsraum, wo sich das angeboten hat. Und wenn es dann mal spät war, hat jeder für sich im Zimmer geschaut. Wir haben dann per Chat oder am nächsten Tag beim Frühstück die wichtigen Szenen ausgewertet. Zudem gab es von der FIFA jeden Tag nach einem Spiel ein "Debriefing", also ein Meeting, wo die wichtigsten Szenen besprochen wurden. Da hatte man noch einen Grund mehr, die Spiele zu schauen, damit man wusste, worum es geht und man aussagekräftig ist.

Abseits des Fußballs: Was ist Ihnen vom Land Katar und der Kultur am meisten im Gedächtnis geblieben?
 
Wir hatten auch die Chance, Doha ein bisschen zu erkunden in den Stunden, wo wir frei hatten und nicht Fußball gespielt wurde. Zwei, dreimal waren wir in der Stadt und haben uns ein wenig die Altstadt angeschaut, die sehr schön eingerichtet war. Mit sehr vielen Restaurants. Von Aserbaidschan bis zu georgischen Restaurants war alles dabei. Das hatte ich auch nicht so erwartet. Wenn man dahinfährt und Doha nicht kennt, denkt man vielleicht auch, dass dort drei Hochhäuser stehen und das war es (lacht).

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Sie wurden auch schon in der Champions League eingesetzt, ist das von der Drucksituation vergleichbar - oder ist eine WM nochmal eine ganz andere Herausforderung für ein Schiedsrichter-Gespann?
 
Eine WM ist etwas anderes. Wir hatten zuletzt auch ein Champions-League-Viertelfinal-Rückspiel geleitet, das ist schon nah dran, würde ich sagen. Aber WM ist einfach etwas Besonderes. An sich muss man versuchen, die Emotionen so gut es geht runterzufahren und sachlich die Szenen zu beurteilen. Und das fällt generell, glaube ich, den Schiedsrichtern leichter als den Spielern, wie man ja gesehen hat.

Sie sprechen da ihr zweites Spiel Uruguay gegen Ghana an. Die Südamerikaner haben zweimal vergeblich einen Strafstoß gefordert. Wie haben Sie das Spiel erlebt?
 
Wir hatten versucht, diese ganzen Konstellationen in der Gruppe auszublenden in dem Sinne, dass wir uns so gut wie möglich auf die Szenen konzentrieren wollten. Aber natürlich muss man schon wissen, wenn ein Team ein Tor schießt, so wie Südkorea, dass dann Uruguay auf einmal noch ein drittes Tor braucht, was vorher gar nicht notwendig war. Und genau zu diesem Zeitpunkt, als das Tor gegen Portugal fiel, hat man gesehen, dass es dann anfing, kritisch und emotional zu werden. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Spiel unter Kontrolle. Daran kann man ablesen, dass die Ursache eher das Ergebnis des Parallelspiels war. Und es ist dann schwer, die Spieler einzubremsen und runterzufahren.

Das heißt, Sie haben auch immer die Konstellation im Hinterkopf. Wurden Sie denn während des Spiels auch über Zwischenstände informiert?
 
Ja, durchaus. Wir haben das mit dem Videoschiedsrichter so abgesprochen, dass, wenn wichtige Spielstände auftreten, die für unser Spiel relevant sind, wir die Info haben wollen. Das hilft uns auch in der Spielleitung, weil wir wissen, dass ab jetzt jede Entscheidung wirklich brutal wichtig ist und man nochmal genauer hinschauen und einen besonderen Fokus auf Einzelszenen legen muss. Wir haben damit das Wissen, dass ein Stürmer nun vielleicht versucht, etwas herauszuholen, weil sie es spielerisch nicht schaffen. So ist es uns dann auch passiert. Darauf muss man vorbereitet sein. Bei allen kritischen Entscheidungen muss ich Daniel aber ein großes Lob machen. Er stand sehr nah dran und hat das sehr gut analysiert. Beide Strafstoß-Entscheidungen waren so, wie es die FIFA haben will. Das wurde auch am nächsten Tag so bestätigt.

Gerade das erste WM-Spiel, was wir hatten, Australien gegen Tunesien, da ist es mir vor dem Spiel schon kalt den Rücken runtergelaufen. Weil man da gemerkt hat, was man jetzt alles erreicht hat. Mehr geht nicht.

Nach dem Spiel bekam Siebert den Frust der Spieler stark zu spüren und sie flüchteten gemeinsam mit ihm in die Kabine. Wie haben Sie diese Situation erlebt?
 
Klar, aus der Sicht von Uruguay war das natürlich frustrierend. Und dass bei den Spielern, von denen einige auch ihre letzte WM hatten, Frust hochkommt und man irgendwo versucht, diesen Frust zu kanalisieren und diesen gegen die Schiedsrichter zu richten, ist auch nichts Neues. Ich finde, Daniel hat da auch sehr stark mit seiner Körpersprache reagiert, hat nach Spielschluss noch Karten verteilt. Aber egal, was man in dieser Situation getan hätte: Man hätte die Spieler nicht beruhigt bekommen. Da gibt es dann auch keinen Blumentopf mehr zu gewinnen und man sollte schnellstens in die Kabine. Denn mit jeder Sekunde, die man da noch draußen bleibt, wird es schlimmer.

Konnten Sie die Entscheidung der Fifa nachvollziehen, Ihr Schiedsrichter-Gespann nicht für ein drittes WM-Spiel zu nominieren?
 
Da muss man ein wenig zurückgehen. Wir waren eins von zehn europäischen Schiedsrichter-Teams bei der WM – und das mit Abstand unerfahrenste Gespann, sowohl vom Alter als auch von der internationalen Erfahrung. Dazu haben wir noch kein europäisches Finale geleitet. Alle anderen neun hatten das schon. Daher war es uns auch klar, dass es eine große Leistung ist, wenn wir zwei Spiele schaffen. Man hat auch gesehen, dass große Schiedsrichter mit einem oder keinem Spiel nach Hause gefahren sind. Diese hat es eher getroffen. Wir können mit unserem Turnier schon zufrieden sein. Darauf können wir beim nächsten Turnier hoffentlich aufbauen.

Sind solche WM-Spiele das Größte, was man erreichen kann als Schiedsrichter oder Assistent?
 
Ja, ein WM-Spiel ist das Beste, was man erreichen kann. Gerade das erste WM-Spiel, was wir hatten, Australien gegen Tunesien, da ist es mir vor dem Spiel schon kalt den Rücken runtergelaufen. Weil man da gemerkt hat, was man jetzt alles erreicht hat. Mehr geht nicht. WM ist das Allergrößte.

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Überwiegend sind Sie als Assistent in der Bundesliga unterwegs. Inwiefern unterscheidet sich aus ihrer Sicht die Arbeit eines Schiedsrichters zwischen Liga und WM?
 
Die Kunst ist eigentlich, es so vergleichbar wie möglich zu machen, dass man eben nicht versucht, irgendetwas anders zu machen als sonst. Das ist aber schwierig. Wir haben versucht, das so routiniert und bodenständig wie möglich an diese Spiele ranzugehen. Aber man muss rückwirkend sagen, dass die Drucksituation bei der WM eine andere ist, wenn man merkt, dass die ganze Welt darauf schaut. Und was noch hinzukommt, ist, dass wir keine europäische Mannschaft in den zwei Spielen hatten. Wir sind sehr an den europäischen Fußball gewöhnt. Da herrschen andere Spielsysteme, andere Charaktere und ein anderes Temperament. Das hat man auch bei den Marokkanern gesehen zum Beispiel, mit wie viel Leidenschaft da Fußball gespielt wird. Und so war Uruguay eben auch.

Sie kommen aus Schwante im Landkreis Oberhavel, leben mittlerweile in Oberkrämer. Haben Ihre Freunde dort und die Mitglieder Ihres Vereins "Ihre" Spiele besonders intensiv verfolgt?
 
Ja, ich habe seit der Europameisterschaft im letzten Jahr, wo wir auch dabei waren, eine etwas größere Whatsapp-Gruppe angelegt. Mit meinen "Fans" sozusagen (lacht). Das sind viele Schiedsrichter und eben Familie und Freunde drin. Die fiebern mit und die habe ich auch regelmäßig informiert. Viele von denen haben mich bei der Rückankunft überrascht. Da hat meine Frau eine tolle Organisation geleistet. Abends sind dann ungefähr 30 Schiedsrichter und Freunde zusammengekommen und es gab eine Überraschungsparty. Mit Lagerfeuer und Glühwein.

Vielleicht zum Abschluss ein kurzer Ausblick. Es stehen ja weitere Turniere an, zum Beispiel die Euro 2024 in Deutschland. Ist das ein Ziel, dort dabei zu sein?
 
Mit Sicherheit. Wir sind vom Alter her noch nicht die, die vom letzten Turnier reden. Wir haben noch eine Perspektive. Wenn wir jetzt ein bisschen zur Ruhe gekommen sind und alles aufgearbeitet haben, dann ist das nächste große Ziel die Euro im eigenen Land, das ist klar.
 
Und danach die WM 2026 in Kanada, Mexiko und den USA?
 
Eins nach dem anderen. Aber eigentlich war unser Plan gar nicht diese WM, sondern die nächste. Es ging die letzten zwei Jahre sehr steil und unerwartet bergauf. Von daher halten wir nach wie vor daran fest, dass in vier Jahren "unsere" WM kommen soll.

Vielen Dank für das Gespräch!
 
Das Interview führte Fabian Friedmann, rbb Sport.