
Kopfverletzungen im Fußball Bandagierte Antihelden
In der Bundesliga rummst es regelmäßig. Spieler knallen mit den Köpfen aneinander und stehen danach mit Verbänden auf dem Platz. Damit steigt ihr Risiko für schwere Verletzungen. Trotzdem werden sie noch immer gefeiert. Von Lynn Kraemer
34. Spieltag: Marcel Lotka ist auf Rettungsmission. Er will seinen Klub, Hertha BSC, in der Fußball-Bundesliga halten. Ein Torwart, der vor allem mit seinem leidenschaftlichen Einsatz auffällt. Kurz vor der Halbzeitpause ist Lotka gefragt. Der Ball fliegt auf die obere rechte Ecke des Tors zu. Lotka streckt sich, wehrt den Ball ab und prallt mit dem Gesicht gegen den Pfosten. Er ist schnell wieder auf den Beinen, doch ein Blick auf seine Nase zeigt, dass der Aufprall heftig war.
Der 20-Jährige spielt die Partie bis zum bitteren Ende und setzt so seine Gesundheit aufs Spiel. Am Tag danach verkündet Hertha BSC: Leichte Gehirnerschütterung und Nasenbeinbruch bei Marcel Lotka. Es sei unklar, ob er im ersten Relegationsspiel dabei sein könne. Konnte er nicht. Am Donnerstag gab Torhüter Oliver Christensen sein Pflichtspieldebüt im Olympiastadion.
Klares Regelwerk
Für Kopfverletzungen gibt es in der Bundesliga ein klares Regelwerk, das befolgt werden soll. Absichtliche Ellbogenchecks ins Gesicht werden seit zehn Jahren mit einem Platzverweis geahndet. Schon bei der medizinischen Voruntersuchung vor jeder Saison müssen sich die Profis der 1. und 2. Bundesliga einem sogenannten 'Baseline-Test' unterziehen. Bei der Untersuchung werden beispielsweise die Merkfähigkeit und Balance getetestet, um so Vergleichswerte mit dem Normalzustand zu liefern, falls sich die Spieler verletzen [dfl.de].
Kommt es bei einem Spiel zum Zusammenstoß, sind die Schiedsrichter dazu angehalten, eine dreiminütige Behandlungspause einzuräumen. Erst nach den drei Minuten werden die medizinischen Betreuer aufgefordert, die Spieler zur Seitenlinie zu bringen. "Es geht in der Zeit nicht darum, die Diagnose einer Gehirnerschütterung zu stellen, sondern darum, eine solche ausschließen zu können", erklärt der Neurologe Claus Reinsberger, Mitglied der medizinischen Kommission des DFB.
An den Teambänken gibt es Tablet-PCs, damit die Szene nochmal angeschaut und die Wucht des Aufpralls eingeschätzt werden kann. Ob der Spieler weitermachen darf, entscheidet nur der Teamarzt. "Ein Teil der Problematik um die Gehirnerschütterung ist auch, dass die Einsichtsfähigkeit herabgesetzt sein kann. Das heißt, ich muss in dem Moment den Spieler vor sich selbst schützen", sagt Reinsberger. Trainer, Unparteiische und Spieler dürfen sich deswegen nicht einmischen.

Worst Case: Second Impact Syndrome
Das Problem: Nicht jeder Spieler geht bewusstlos zu Boden oder zeigt klare Symptome wie Schwindel und Übelkeit. Viele Gehirnerschütterungen bleiben so bei der Erstuntersuchung unentdeckt. Und selbst bei einem CT oder MRT können viele Kopfverletzungen nicht erkannt werden. Darf der Spieler oder die Spielerin zurück aufs Feld, "muss ich ihn aber unbedingt beobachten, denn es kann eben auch vorkommen, dass sich Symptome erst mit etwas Verzug manifestieren", so Reinsberger.
Bei einem Erwachsenen dauert es mindestens sechs Tage, bis er sich von der Kopfverletzung erholt hat. 90 Prozent der Betroffenen sind innerhalb von 14 Tagen wieder fit. Kehren Sportler zu früh wieder auf den Platz zurück, kann das schwerwiegende Folgen haben. Wenn es zu einem weiteren Zusammenstoß oder sogar einer zweiten Gehirnerschütterung kommt, obwohl die erste noch nicht verheilt ist, steigt das Risiko immens. Dann ist nicht nur mit einer längeren Erholungsphase, sondern auch mit Komplikationen, wie erheblichen Hirnschwellungen zu rechnen.
Bei einem Zweittrauma, dem sogenannten Second Impact, kommt es durch eine akute Hirnschwellung zu irreparablen Schäden, die tödlich enden können. Dass ein Second Impact auftritt, ist äußerst selten. Doch wenn es passiert, ist es katastrophal. Wiederholte Gehirnerschütterungen können dazu führen, dass es auch Jahre nach dem Karriereende zu einem lokalen Gehirnverschleiß und langfristigen neurologisch-psychiatrischen Folgen, wie Parkinson kommt.
Und Reinsberger weist abseits des Medizinischen noch auf einen weiteren Faktor hin: "Wenn ich jemanden mit einer Gehirnerschütterung weiterspielen lasse, dann kann der mir das Spiel verlieren." Auf einem hohen Spielniveau kann schon ein leichter Leistungsabfall spielentscheidend sein.
Verharmlosung und Heldentum
Dass sich ein Spieler wie Marcel Lotka selbst ausknockt, passiert eher selten. Häufiger sind Zusammenstöße bei Kopfballduellen. So wie bei Santiago Ascacibar und Augsburgs Niklas Dorsch am 30. Spieltag. Die Spieler sind kaum auf dem Boden aufgekommen, da schrillt auch schon die Pfeife des Schiedsrichters durchs Stadion. 15 Sekunden später beugen sich bereits mehrere Teambetreuer über die Spieler. Knapp vier Minuten später geht es für sie mit bandagierten Köpfen zurück aufs Feld. Kein Boxenstopp in Formel-1-Rekordzeit (der liegt bei 1,82 Sekunden), aber hier geht es schließlich auch um die Köpfe von zwei Sportlern und nicht um Maschinen. Nach dem Spiel wird Ascacibar auf der Hertha-Vereinsseite zitiert: "Mein Kopf hat nach dem Spiel schon ein wenig gebrummt, aber die drei Punkte haben den Zusammenprall vergessen lassen."
Der Zusammenprall von Ascacibar und Dorsch ist beispielhaft für eine Dynamik, die sich abseits des Platzes beobachten lässt: besonderes Lob für das Weiterspielen mit Verletzungen. So wünschten die Social-Media-Teams von Augsburg und Hertha erst gute Besserung und feierten wenig später den neuen Look mit "Turban". Dass diese Reaktion nicht unbedingt zeitgemäß ist, zeigte sich auch in den Kommentaren unter den Tweets.
Immer wieder wird die eigentliche Gefahr von Kopfverletzungen heruntergespielt. So sagte Union-Trainer Urs Fischer kürzlich in einer Pressekonferenz auf die Frage nach Kopfverletzungen: "Am Schluss ist Fußball eine Kampfsportart." Dabei wird Fußball im Gegensatz zum Eishockey oder Lacrosse eigentlich als Kontakt- und nicht als Vollkontaktsport eingestuft. Trotz der Zweikämpfe um den Ball sollte Fußball nichts mit wortwörtlichen Kämpfen zu tun haben. So sendet die Bundesliga ein falsches Signal an die unteren Ligen und den Amateursport, für den sie Vorbildcharakter hat.
Wie Spieler besser geschützt werden könnten
Das International Football Association Board (IFAB) startete im Januar 2021 ein Testverfahren für dauerhafte Auswechslungen in Folge von Gehirnerschütterungen. Zusätzlich zu den drei regulären Wechseln können Wechsel erfolgen, wenn bei Spielern der Verdacht auf eine Gehirnerschütterung besteht. Die Testphase läuft noch bis Ende Juli [theifab.com]. Die Bundesliga nimmt nicht an diesem Test teil, weil durch die Pandemie-Sonderregel ohnehin fünf Wechsel erlaubt sind.
Und auch bei einem zusätzlichen Wechsel bleibt der Entscheidungsdruck für die Ärzte. Neurologe Claus Reinsberger spricht sich daher für temporäre Wechsel aus: "Dann könnte ich mit dem Spieler oder der Spielerin für zehn Minuten in die Katakomben gehen und eine adäquatere Untersuchung durchführen." Ohne mehrere 10.000 Menschen, die zuschauen, mit der nötigen Ruhe und mehr Ausstattung.
Auch ein neutraler Arzt, wie es ihn in der NFL gibt, ist immer wieder im Gespräch. Doch: "Die beste medizinische Versorgung wird durch diejenigen Ärztinnen und Ärzte gewährleistet, die hierzu nicht nur qualifiziert sind, sondern auch die Athletinnen und Athleten und deren Vorbefunde kennen", sagt Reinsberger. Neutrale Beobachter würden vermutlich übervorsichtig mehr Spieler vom Platz nehmen, weil sie deren Persönlichkeiten und Fähigkeiten schlechter einschätzen können. Für die Gesundheit der Spieler kann das unter Umständen förderlich sein, aber nicht unbedingt genau.
Held ist, wer für die Gesundheit aussetzt
Die Regeländerungen und erhöhte Aufmerksamkeit zeigen Wirkung. Im Fußball findet seit einiger Zeit ein Umdenken im Umgang mit Kopfverletzungen statt. Spieler wie Marcel Lotka bekommen die nötige Ruhezeit und müssen im Zweifelsfall auch bei der wichtigsten Partie der Saison aussetzen. Und dafür sollten sie wirklich gefeiert werden.