Olympische Winterspiele in Peking Diskussion um Olympiaboykott: "Deutschland steht unglaublich schwach da"

Stand: 21.01.2022 16:15 Uhr

Peter Dahlin ist Direktor und Mitbegründer der Menschenrechtsorganisation “Safeguard Defenders”, die auch in China aktiv ist. Im Gespräch mit Sport inside spricht er über die Boykott-Diskussion anlässlich der Winterspiele in Peking, die zögerliche Haltung Deutschlands und das Verhältnis des IOC zu China.

Herr Dahlin, je näher die Olympischen Winterspiele in Peking rücken, desto lauter wird die Kritik, vor allem wegen der Menschenrechtssituation. Wie steht es um die Menschenrechte in China?

Peter Dahlin: Seit den Olympischen Sommerspielen 2008 sehen wir eine stetige Verschlechterung in allen Bereichen, die mit den grundlegenden Menschenrechten zu tun haben. Die Situation hat sich in den letzten Jahren insofern verschlechtert, als nicht mehr nur gegen Menschrechtsaktivisten, sondern gegen viele Bereiche der zivilen Gesellschaft vorgegangen wird.

Können Sie das weiter ausführen?

Dahlin: Zunächst wurde vor ein paar Jahren der Begriff "Zivilgesellschaft" verboten und durch "öffentliche Gesellschaft" ersetzt. Alles was die Führung als Zivilgesellschaft ansieht, findet ihrem Verständnis nach, außerhalb der Partei und des Staates statt und stellt für sie deshalb eine potenzielle Bedrohung dar. Gerade nach weltweiten Protesten und Revolutionen möchte die Regierung jede Form der zivilen Organisation zerschlagen.

Auch Sie wurden 2016 als eine Bedrohung für die Kommunistische Partei angesehen und inhaftiert. Erzählen Sie uns bitte von ihrer Inhaftierung.

Dahlin: Nun, ich wurde nie im klassischen Sinne verhaftet, wurde nie angeklagt oder war Teil eines gerichtlichen Prozesses. Stattdessen wurde ich in ein sogenanntes "schwarzes Gefängnis" gesteckt, in denen das Regime Dissidenten verschwinden lässt – ein massiv wachsendes System der strafrechtlichen Willkür. Es richtet sich gegen alles, das als parteifeindlich angesehen wird und steht beispielhaft  für den Zusammenbruch des Justizsystems. Ich wurde einen Monat in Einzelhaft, in einer gepolsterten Selbstmordzelle, festgehalten und kam nur aufgrund großen diplomatischen Drucks frei.

"Ein diplomatischer Boykott wird die Spiele natürlich nicht verhindern"

Inwiefern hat diese Erfahrung Ihre Wahrnehmung von China verändert?

Dahlin: Sie hat mir die Hoffnung genommen. Die Unterdrückung der Zivilgesellschaft läuft sonst in Zyklen ab. Nach starker Unterdrückung folgt eine Lockerung. Reformen und Öffnungen waren ein Mittel, um China wachsen zu lassen und um stärker zu werden. Nun ist das Land sowohl innenpolitisch als auch international stark und übernimmt wieder die Kontrolle über die Gesellschaft. Die Unterdrückung wird verstärkt, doch es gibt keine Aussicht auf Lockerung. Eine besorgniserregende Entwicklung.

Angesichts dieser katastrophalen Menschenrechtssituation, sollten die Olympischen Spiele dort ausgetragen werden?

Dahlin: Ich denke, für eine Absage ist es zu spät. Was ich mich frage: Warum wurde dies nicht zum Zeitpunkt der Vergabe diskutiert? Warum hat man aus den vielen leeren Versprechungen rund um die Sommerspiele 2008, nichts gelernt? Gerade in Ländern mit einer schwierigen Menschenrechtslage müssen diese Diskussionen geführt werden und die Versprechungen des Gastgebers einer Analyse unterzogen werden. Stattdessen wurden alle damals gebrochenen Versprechungen vom IOC unter den Teppich gekehrt. Von Seiten des IOC gab es also keine Analyse, keine erneute Risikobewertung, kein gar nichts.

Mehrere Länder, darunter auch die USA, haben einen diplomatischen Boykott erklärt. Wie bewerten Sie dieses politische Mittel?

Dahlin: Ein diplomatischer Boykott wird die Spiele natürlich nicht verhindern. Aber wenn man sich die Reaktion der chinesischen Führung ansieht, scheint es sehr gut zu funktionieren. Sie wollen unbedingt, dass hochrangige politische Persönlichkeiten an den Spielen teilnehmen, und das wird ihnen nun verwehrt. Für sie ist das eine Bedrohung ihrer Legitimität. Es stellt die weltweite Bühne, die China zur Selbstdarstellung nutzen möchte, in Frage.

"Das IOC macht sich, und alles wofür es steht, lächerlich"

"Wenn Deutschland keine Führungsrolle einnehmen kann, wer dann?

Deutschland verhält sich ambivalent. Es sollen keine politischen Vertreter nach China reisen,  die Regierung will das aber nicht als diplomatischen Boykott bezeichnen. Wie bewerten Sie diese Haltung?

Dahlin: Ich finde das erbärmlich. Das Verhalten lässt Deutschland unglaublich schwach dastehen. Das wichtigste Land in Europa, in der Europäischen Union, sollte sich positionieren. Selbst wenn sich Deutschland gegen einen diplomatischen Boykott entscheidet. Manchmal ist jede Entscheidung besser als keine Entscheidung.

Frankreich verweigert einen Boykott. Hierzulande gibt es Stimmen, dass dadurch auch für Deutschland ein Boykott nicht in Frage kommt. Was sagen Sie dazu?

Dahlin: Es klingt wie eine Ausrede. Es ist typisch für europäische Länder, dass sie es vermeiden, individuelle Entscheidungen zu treffen. Man versteckt sich oft hinter dem Schutzschild der EU.  Aber Länder, die für sich in Anspruch nehmen, die Souveränität über ihre Außenpolitik zu haben, sollten sich dann in schwierigen Fragen nicht hinter der EU verstecken. Deutschland ist kein Vasallenstaat, auch wenn es sich manchmal wie einer verhält. Deutschland ist bei weitem die wichtigste europäische Macht in der Welt. Und wenn es keine Führungsrolle einnehmen kann, wer dann?

Reicht denn ein rein diplomatischer Boykott aus?

Dahlin: Für einen echten Boykott ist es einfach zu spät. Kein Land – höchstens vielleicht Litauen – wird die Spiele tatsächlich boykottieren. Das Beste, worauf wir hier hoffen können, ist, dass wir die Spiele als Plattform nutzen, um die unterschiedlichen Probleme hervorzuheben. Auch die Art und Weise, wie das IOC mit Ländern, die eine sehr fragwürdige Menschenrechtsbilanz aufweisen, zusammenarbeitet, muss hinterfragt werden. Auch die Auswahl des Gastgebers muss reformiert werden. In Zukunft muss eine angemessene Bewertung der Gegebenheiten vor Ort erfolgen.

"Das IOC macht sich, und alles wofür es steht, lächerlich"

Wären Sie, wenn es nicht schon zu spät wäre, für einen kompletten Boykott dieser Spiele?

Dahlin: Ja, wenn wir dabei nicht unsere Athleten unterminieren würden. Ich denke, dass diese Spiele nicht stattfinden sollten. Das IOC macht sich, und alles wofür es steht, lächerlich.

Glauben Sie, dass das Argument, dass diese Athleten durch einen Boykott unterminiert werden, valide ist?

Dahlin: Es ist ein berechtigtes Argument und eine berechtigte Sorge. Allerdings steht hier ein einzelner Sportler offensichtlich neben Zehntausenden von Menschen, die jedes Jahr gefoltert werden und spurlos verschwinden. Von den Masseninternierungslagern in Xinjiang ganz zu schweigen. Angesichts dessen tun mir die Athleten zwar leid, aber man muss sich der Realität stellen. Für mich stehen ihre Sorgen in keinem Verhältnis zu den unzähligen Gräueltaten.

Wie beurteilen Sie die Sicherheit der olympischen Athleten, wenn sie sich kritisch gegen das Regime äußern?

Dahlin: Die Richtlinien des IOC in Bezug auf die freie Meinungsäußerung während der Spiele sie sind gelinde gesagt problematisch. Sie ist nur in bestimmten Bereichen, den Mixed Zones, erlaubt. Überall sonst gelten die lokalen Gesetze, die die freie Meinungsäußerung stark einschränken. Ausländische Athleten, könnten strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie sich zu etwas äußern, das von der Regierung als politisch heikel angesehen wird.

Wie sieht der Nutzung mit sozialen Medien aus?

Dahlin: Den Athleten ist es erlaubt, diese zu nutzen. Das Problem ist aber, dass alle sozialen Medien in China verboten und blockiert sind. Wenn man also nicht im Olympischen Dorf ist, hat man keinen Zugang zu ihnen. Man muss ein VPN, ein virtuelles privates Netzwerk, benutzen, um die Firewall zu überwinden. Allerdings steht die Verwendung solcher Tools ebenfalls unter Strafe. Es wird also sehr interessant zu beobachten sein, wie sich das IOC und die chinesische Regierung in solchen Fällen verhalten werden.

Oft wird gefordert, dass Athleten ihre Prominenz nutzen sollten, um auf Missstände hinzuweisen. Das Rampenlicht sorge für eine gewisse Sicherheit Athleten. Was meinen Sie?

Dahlin: Den ausländischen Athleten gibt es eine gewisse Sicherheit, sie müssten die Partei schon sehr beleidigen, bevor sie eingreifen würden. Ohnehin würde aber nichts von dem, was die Athleten sagen, von irgendjemandem in China gehört wird. Die Informationskontrolle ist in China so stark, dass egal was sie sagen, nichts davon in den sozialen Medien oder im chinesischen TV landet.

"Wie kann dieser Mann nachts schlafen"

Zuletzt sorgte der Fall Peng Shuai weltweit für Entsetzen. Es gab große Kritik auch in Richtung des IOC. Wie nehmen Sie das Verhalten des IOC wahr, wenn es um China geht?

Dahlin: Ich denke, das IOC ist schon seit langem kompromittiert. China schafft es immer wieder gut, Eliten für sich zu gewinnen. Sie behandeln diese Leute übermäßig gut, damit sie sich sehr wichtig fühlen. Thomas Bach wird wie der Präsident eines Landes behandelt. Wenn er ankommt, wird der rote Teppich ausgerollt. Darüber hinaus profitiert das IOC finanziell von China. Wir wissen schon lange, dass das IOC kompromittiert ist. Aber der Fall um Peng Shuai hat das Ganze nochmal auf eine dramatische Weise verdeutlicht. Der Umgang des IOC und insbesondere von Präsident Bach mit der gesamten Situation war verabscheuungswürdig. Wie kann dieser Mann nachts schlafen?

Das IOC verteidigte sein Verhalten mit dem Hinweis auf "stille Diplomatie". Ist das, ihrer Meinung nach, der richtige Weg im Umgang mit Ländern wie China?

Dahlin: Für mich hat sich ihre Strategie als unwirksam erwiesen. Wir haben in unserer Arbeit bei Safeguard Defenders festgestellt, dass sich die Situation von Opfern politischer Willkür verbessert, je mehr mediale und diplomatische Aufmerksamkeit erzeugt wird. Das IOC handelt also kontraproduktiv, wenn es zu derartigen Vorfällen schweigt. Wenn es also tatsächlich um die betroffenen Athleten geht, sollte das IOC Druck aufbauen, anstatt Dinge herunterzuspielen. Ansonsten bestärkt es dadurch das Handeln Chinas.

Das Interview führte Tom Klees