Caster Semenya war mit ihrer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erfolgreich.

Wegen Testosteronvorschriften Semenya gewinnt Berufung vor Europäischem Gerichtshof

Stand: 11.07.2023 14:27 Uhr

Olympiasiegerin Caster Semenya (Südafrika) hat in ihrem langjährigen Rechtsstreit gegen die umstrittene Testosteron-Regel des Leichtathletik-Weltverbandes World Athletics (WA) vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg einen wichtigen Sieg gefeiert - ihre Klage gegen die Schweiz war erfolgreich.

Semenya sei diskriminiert worden, urteilten die Richter mit einer 4:3-Mehrheit. In seinem Urteil stellte das Gericht "insbesondere fest, dass die Klägerin in der Schweiz keine ausreichenden institutionellen und verfahrensrechtlichen Garantien erhalten hat, die ihr eine wirksame Prüfung ihrer Beschwerden ermöglicht hätten". Das Urteil hat für die 32-Jährige allerdings weitgehend nur symbolischen Charakter, da es die WA-Regel an sich nicht infrage stellt und Semenya damit auch keine Rückkehr geebnet wird.

World Athletics nahm das "Urteil der tief gespaltenen Kammer" zur Kenntnis, wie es in einer Stellungnahme hieß. Der Weltverband hatte im November 2018 in bestimmten Disziplinen für die Teilnahme-Berechtigung in der Frauenklasse einen Testosteron-Grenzwert eingeführt. Dagegen hatte die dreimalige Weltmeisterin vergeblich beim CAS und dem Schweizer Bundesgericht geklagt.

Erstmal werden Vorschriften nicht geändert

Der Leichtathletik-Weltverband wird ungeachtet des Urteils zugunsten der Läuferin Semenya seine Testosteron-Vorschriften zunächst nicht ändern. World Athletics will vielmehr die Schweizer Regierung in der Entscheidung ermutigen, den Fall an die Große Kammer des EGMR zu verweisen, um "eine endgültige Entscheidung" zu treffen.

"In der Zwischenzeit bleiben die DSD-Bestimmungen, die vom Exekutivkomitee von World Athletics im März 2023 genehmigt wurden, in Kraft", hieß es in einer Stellungnahme am Dienstag. Der internationale Dachverband halte die Transgenderregeln "weiter für ein notwendiges, angemessenes und verhältnismäßiges Mittel zum Schutz des fairen Wettbewerbs in der Frauenkategorie".

Langer Gang durch die Instanzen

Semenya gewann 2012 und 2016 Olympia-Gold über 800 Meter, darf aber seit 2019 aufgrund der sogenannten Testosteron-Regel nicht mehr bei internationalen Rennen über ihre Paradestrecke antreten. Ihren Protest gegen ihr Startverbot trug Semenya zunächst vor den Internationalen Sportgerichtshof CAS. Dieser entschied gegen sie, wogegen sie Beschwerde vor dem Schweizer Bundesgericht in Lausanne eingereicht hat. Das Bundesgericht wies diese jedoch ab. Semenya wandte sich deshalb an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Im Kern des Rechtsstreits geht es um ein Testosteron-Limit für Athletinnen mit intersexuellen Anlagen. Die neueste Version der Regel verlangt, dass Sportlerinnen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (DSD) ihren Testosteronwert im Blut auf unter 2,5 Nanomol pro Liter senken und diesen Wert zwei Jahre lang unterschreiten müssen, um in der weiblichen Kategorie antreten zu können.

Regel gilt für alle Disziplinen

Die dreimalige Weltmeisterin lehnt dies ab. Die Regel gilt mittlerweile für alle Disziplinen und nicht mehr wie bisher für die Laufstrecken von 400 Meter bis zu einer Meile. WA hatte die Regel eingeführt, um die Integrität der Frauen-Kategorie zu schützen.

"Alles, was wir möchten, ist die Erlaubnis, frei zu laufen, jetzt und für immer, als die starken und furchtlosen Frauen, die wir sind und immer waren", hatte Semenya gesagt, als sie ihre Klage einreichte: "Bei diesem Kampf geht es nicht nur um mich, sondern darum, Stellung zu beziehen und für Würde, Gleichheit und die Menschenrechte von Frauen im Sport zu kämpfen."

Urteil einer unabhängigen Instanz

Der EGMR stellte nun fest, dass Semenya bei den Gerichtsverfahren in der Schweiz ein wirksamer Rechtsbehelf verweigert wurde. Sie habe glaubwürdig dargelegt, warum sie wegen ihres erhöhten Testosteronspiegels diskriminiert werde. Für solche Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts und sexueller Merkmale brauche es "sehr gewichtige Gründe" als Rechtfertigung.

Weil für Semenya so viel auf dem Spiel stand, hätte ihr Anliegen besser geprüft werden müssen, so die Richter.Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Sitz im französischen Straßburg gehört zum Europarat und ist von der EU unabhängig. Europarat und Gerichtshof setzen sich für den Schutz der Menschenrechte in den 46 Mitgliedstaaten ein.

Hajo Seppelt ordnet den Fall an

ARD-Sportpolitik-Experte Hajo Seppelt sprach am Dienstag von "einem Etappensieg für Caster Semenya", doch möglicherweise seien die Auswirkungen gar nicht so groß. "Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte meint nicht automatisch das Regelwerk des Weltverbandes, sondern er meint eigentlich nur, dass sie im Prozess vor dem Schweizer Bundesgericht -gerade dort - nicht genügend Möglichkeiten bekommen hatte, ihre Sicht der Dinge prozessual richtig darzustellen. Deswegen besteht für den Weltverband keine Veranlassung, die Regeln für intersexuelle Frauen zu verändern. Es heißt auch nicht, dass Caster Semenya ein Startrecht erwirkt hat."

Eine Wertung fällt auch Seppelt in dieser Grundsatzfrage schwer: Hier gehe es im Grunde um einen "Kulturkampf", bei dem zwei Rechtsgüter gegeneinander abgewogen werden müssten. Das Urteil sei als Aufforderung zu verstehen, die Regel des Weltverbandes der Leichtathletik "neu zu diskutieren": Er würde nicht so weit gehen und sagen, "damit fällt die Regel".