Die Turnerin "Lea" zeichnet ihre Geschichte

Sexueller Missbrauch im Sport Betroffene schreiben Geschichte

Stand: 25.09.2022 12:32 Uhr

Am Dienstag veröffentlicht die Aufarbeitungskommission der Bundesregierung eine Studie zu sexualisierter Gewalt im Sport. Dort sind 72 Erfahrungsberichte von Betroffenen ausgewertet. Es ist die bisher größte Studie dieser Art im deutschen Sport. Eine Athletin, die dort ihre Geschichte erzählt hat, ist eine ehemalige Turnerin, die wir Lea nennen.

"Sexualisierte Gewalt und sexueller Kindesmissbrauch im Sport" - unter diesem sachlich klingenden Titel sind Geschichten vereinigt, die bewegen, berühren, erschüttern. So wie die von Lea. Sie meldet sich 2019 auf einen Aufruf der "Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs" der Bundesregierung und erzählt in einer persönlichen Anhörung ihre Geschichte.

Langes Warten auf ein rechtskräftiges Urteil

Sie berichtet von der sexuellen Gewalt, die ihr Turntrainer beim HSV Weimar ihr angetan hat: Es beginnt mit Gesten und Sprüchen, als sie 13 ist. Er "spiralisiert" sie in eine Abhängigkeit hinein, beschreibt sie die Situation in einem Interview mit der Sportschau im Jahr 2019.

Da ist der erste Prozess gegen den Turntrainer gerade vorbei. Bereits im Jahr 2016 erstattet Lea Anzeige, bringt den Fall ins Rollen. Viele weitere Turnerinnen melden sich, berichten zum Teil von Verbrechen, die das Gericht als schwerer sexueller Missbrauch einstuft. Der Trainer legt ein Teilgeständnis ab, bekommt drei Jahre und acht Monate Haft, geht in Revision.

Es dauert weitere anderthalb Jahre bis der Bundesgerichtshof entscheidet: Verfahrensfehler. Ein neuer Prozess ist nötig. In diesem Verfahren fällt das Urteil im März 2022: Drei Jahre und zwei Monate Haft für den Trainer. Wieder geht es in die Revision. Seit Leas Anzeige sind inzwischen mehr als sechs Jahre vergangen. Ein rechtskräftiges Urteil gibt es bis heute nicht.

Eigene Aufarbeitungskommission

Aber es sind mehrere entscheidende Dinge passiert: Die ehemaligen Turnerinnen verlieren sich zwischendurch aus den Augen. Jetzt rücken sie wieder näher zusammen. "Ich muss nicht mehr allein stark sein", so empfindet es Lea und spricht von einem "Wir-Gefühl".

In der Zwischenzeit richtet auch der Verein, der HSV Weimar, "seinen Blick anders aus", wie der 2. Vorsitzende, Matthias Stieff, erklärt: "Wir lernen jetzt Stück für Stück, dass der Rückblick auf Betroffene ein ganz wichtiges Thema ist, um überhaupt in die Zukunft schauen zu können."

Unterstützung kommt von Steffen Sindulka vom Landessportbund Thüringen. Er bringt etwas ganz Neues auf den Weg, was es im Sport in Deutschland bis jetzt noch nicht gibt: Eine unabhängige Aufarbeitungskommission, die den Fall Turnen HSV Weimar untersucht.

Sindulka richtet sich dabei nach den Empfehlungen der "Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs" der Bundesregierung und überträgt das Ganze auf die Belange in Weimar. Er sucht ehrenamtliche Expertinnen und Experten und findet sie. Sie kommen aus den Bereichen Pädagogik, Psychologie, Wissenschaft, Sport und Recht.

Erste Sitzung noch im September

Gemeinsam mit dem HSV Weimar, dem Kinder- und Jugendschutzdienst Känguru in Weimar, der die Betroffenen von Beginn an betreut, und den Betroffenen selbst entwickeln sie einen Fragenkatalog. Das ist die Arbeitsgrundlage für die Aufarbeitungskommission: "Und die soll damit unabhängig arbeiten", so Sindulka.

Die ehemaligen Turnerinnen des HSV Weimar und Betroffene wie Lea, die ihre Geschichte erzählt haben, sorgen dafür, dass zum ersten Mal im deutschen Sport ein Missbrauchsfall durch eine unabhängige Aufarbeitungskommission untersucht wird: "Ich habe schon das Gefühl, dass wir ein bisschen Geschichte schreiben. Solche Meilensteine sind messbar und werden ein Beispiel sein für alles, was später noch kommen wird." Am Mittwoch (28.09.2022) kommt die Kommission zu ihrer ersten Sitzung zusammen.

Sexueller Missbrauch im Sport - Das große Tabu

Andrea Schültke, Sportschau, 13.07.2019 19:05 Uhr