Jan Hempel umarmt seine Frau Ines Hempel

ARD-Doku "Missbraucht" Sexualisierte Gewalt im deutschen Schwimmen - "Alle haben geschwiegen!"

Stand: 24.08.2022 17:45 Uhr

Ex-Wasserspringer Jan Hempel spricht erstmals darüber, dass er von seinem Trainer viele Jahre missbraucht wurde. Sein Fall offenbart eine Kultur des Schweigens im Deutschen Schwimm-Verband, die bis heute besteht.

Von Hajo Seppelt, Arne Steinberg, Josef Opfermann, Bettina Malter

Viele Jahre hat er gebraucht, um diesen Schritt zu wagen. Der ehemalige Weltklasse-Wasserspringer Jan Hempel macht in der ARD erstmals einen Vorwurf von schwer fassbarer Tragweite öffentlich: Sein ehemaliger Trainer Werner Langer habe ihn schwer missbraucht, 14 Jahre lang. "Es fing an mit Anfassen, erst einmal im Monat, bis es dann täglich zu sexuellen Handlungen kam", sagt er. Jan Hempel war elf Jahre alt, als Langer erstmals übergriffig geworden sein soll.

Der Olympiazweite von 1996, Vize-Weltmeister und mehrmalige Europameister erzählt über diese schicksalhaften Jahre jetzt in der ARD-Dokumentation "Missbraucht – Sexualisierte Gewalt im deutschen Schwimmsport". Er hofft, damit zu einem Umdenken im Deutschen Schwimm-Verband (DSV) beizutragen. Denn im DSV herrscht bei diesem Thema eine Kultur des Schweigens – das ist das Ergebnis einer monatelangen, deutschlandweiten ARD-Recherche.

Die Dokumentation zeigt, dass es im Schwimmsport von den 1980er Jahren bis heute zahlreiche Übergriffe auf Athletinnen und Athleten gegeben hat. Betroffene erheben den Vorwurf, dass der sportliche Erfolg über allem stehe und es flächendeckend an Aufklärungswillen mangle.

Jan Hempel: "Alle haben geschwiegen!"

Einer der schlimmsten Übergriffe auf Jan Hempel ereignete sich seinen Angaben zufolge 1992 bei den Olympischen Spielen in Barcelona. Langer habe Hempel unmittelbar vor dem Wettkampf auf einer Toilette vergewaltigt, so schildert es Hempel.

Er sagt heute: Alle, die später von dem Missbrauch erfuhren, hätten darüber geschwiegen und keinerlei Interesse an Aufarbeitung gezeigt. Mehrere Zeugen und Weggefährten Hempels stützen diese Aussage. Die ARD erfuhr aus dem damaligen Umfeld, dass man Hempel angeblich so schützen wollte und den Sachverhalt deswegen nicht publik machte.

Jan Hempel umarmt seine Frau Ines Hempel

Jan Hempel hatte sich nach eigenen Worten 1997 der inzwischen verstorbenen damaligen Bundestrainerin Ursula Klinger anvertraut und ihr vom Missbrauch durch Werner Langer erzählt. Sie leitete anschließend Schritte ein, die zu einer Trennung von dem Trainer führten. "Er wurde dann mit der Begründung Stasi-Vergangenheit entlassen, so wurde es mir gesagt", erinnert sich Hempel. Werner Langer, ein Erfolgstrainer vor und nach der Wiedervereinigung, konnte so beim Österreichischen Schwimmverband als Trainer arbeiten. Ob es dort oder woanders zu weiteren sexuellen Übergriffen kam, ist nicht bekannt. Zu den Vorwürfen kann sich Langer nicht mehr äußern. Er nahm sich 2001 das Leben.

Kultur des Schweigens

Hempel erhebt heute schwere Vorwürfe gegen den Deutschen Schwimm-Verband. "Ich habe es viele Jahre am eigenen Leibe spüren müssen, dass dem DSV nur der sportliche Erfolg wichtig ist. Es wird einfach über Leichen gegangen und wenn man nicht mitzieht, fliegt man raus", sagt Jan Hempel.

Ein weiterer Zeitzeuge bestätigt: Ursula Klinger informierte damals neben anderen DSV-Trainern auch Lutz Buschkow, den früheren Leistungssportdirektor des Deutschen Schwimm-Verbandes, über Hempels Vorwürfe. Buschkow arbeitet bis heute als Bundestrainer Wasserspringen für den DSV. Konkret wirft Hempel dem langjährigen DSV-Top-Funktionär Buschkow vor, dazu beigetragen zu haben, dass sein Missbrauchsfall nie aufgearbeitet wurde.

Auf eine ARD-Anfrage nach einer Stellungnahme antwortete Buschkow nicht. Die aktuelle DSV-Führung gibt an, von den Vorwürfen Hempels erst durch die ARD erfahren zu haben.

Sexueller Missbrauch in Würzburg

Auch in der jüngeren Vergangenheit, so zeigt die ARD-Recherche, kommt es immer wieder zu Vorfällen sexualisierter Gewalt im deutschen Schwimmsport. Besonders im Fokus steht der Bundestützpunkt Würzburg und der dortige Freiwasser-Trainer Stefan Lurz. Bereits vor mehr als zehn Jahren einigte er sich außergerichtlich mit einer Schwimmerin, die er sexuell genötigt haben soll. Dennoch wurde er im DSV weiter gefördert, wurde Bundestrainer.

2021 musste er nach einer Recherche des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, der weitere Übergriffe auf Schwimmerinnen enthüllte, zurücktreten. Im Februar dieses Jahres wurde er wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in zwei Fällen verurteilt. Er bekam eine sechsmonatige Freiheitsstrafe auf Bewährung. Das Amtsgericht weist ihn an, "jegliche berufliche oder ehrenamtliche Tätigkeit im Zusammenhang mit dem Schwimmsport zu unterlassen".

Neue Erkenntnisse im Fall Lurz

Nun zeigen der ARD zugespielte Aufnahmen, dass Stefan Lurz im Schwimmverein Würzburg 05 noch immer Tätigkeiten ausübt. Kritik im Verein gebe es daran kaum. Die Bilder zeigen Lurz aktiv auf dem Gelände des Schwimmvereins, auch in den Geschäftsräumen. Laut internen Dokumenten hat er dort inzwischen einen Posten als kaufmännischer Angestellter inne. Präsident des Vereins ist der ehemalige Weltklasse-Schwimmer Thomas Lurz, Bruder von Stefan Lurz.

Der ehemalige Leistungssportdirektor des Deutschen Schwimm-Verbandes, Thomas Kurschilgen, der in der Causa Würzburg mit seinem früheren Arbeitgeber über Kreuz liegt, sagt der ARD: "Wer kann denn, wenn er diese Bilder sieht, junge Athleten und Athletinnen an diesem Bundesstützpunkt unbedenklich hinführen? Ich bin da wirklich sprachlos."

Der Verein wollte sich auf ARD-Anfrage zum Fall Lurz nicht äußern.

Probleme auch bei Olympia

Lange kein konsequentes Handeln – diesen Vorwurf muss sich der DSV auch bei Vorfällen gefallen lassen, die sich bei den Olympischen Spielen in Tokio 2021 ereigneten. Ein Delegationsmitglied des DSV belästigte nach internen Verbandsdokumenten zwei beim DSV angestellte Frauen verbal. Sie informierten daraufhin den Verband und dessen Vorstand darüber. Ihrer Auffassung nach sei seitdem nichts passiert, obwohl die DSV-Präventionsbeauftragte das innerhalb des Verbandes mehrfach gefordert hatte.

Auf ARD-Anfrage erklärt der DSV, im Fall Tokio liege lediglich "gegebenenfalls" ein Verstoß gegen Good-Governance-Richtlinien vor. Der Mann, so heißt es, werde derzeit nicht bei DSV-Maßnahmen eingesetzt. Nach ARD-Informationen ist er erst kürzlich wieder mit Wissen des DSV im Schwimmsport tätig gewesen. Mittlerweile liegt der Fall bei der Ethikkommission des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB).

DSV-Insider: "Augenwischerei und Fassade"

Einen ranghohen Vertreter des Deutschen Schwimm-Verbandes, der anonym bleiben will, überrascht das Gebaren seines Arbeitgebers nicht. Er hat intensiven Einblick in das, was an der Verbandsspitze passiert. Im Gespräch mit der ARD sagt er: "Der Umgang mit dem Problem – das ist doch alles nur Augenwischerei und Fassade. Die Präventionsbeauftragte ist nur ein Feigenblatt nach außen." Er wirft dem Verband vor, sexuelle Übergriffe totzuschweigen.

Der DSV teilt zu diesem Vorwurf mit: Der amtierende Vorstand "versichert, dass jeglichen Meldungen im Bereich der sexualisierten Gewalt seit dessen Amtsbeginn aufgenommen und mit großem Engagement […] gemäß des Präventionskonzeptes bearbeitet wurden."

Jan Hempel hat sich jahrelang im Stich gelassen gefühlt. Auch im Sinne weiterer Betroffener hat er sich nun entschlossen zu reden. "Man ist es anderen für die Zukunft schuldig, dass man darüber spricht", sagt Hempel. Zudem kämpft er gegen das Vergessen. Vor kurzem erfuhr er, dass er an Alzheimer leidet.