Neue Diskussion über Testosteron-Regel Testosteron-Debatte: Korrektur ohne Bedeutung

Stand: 27.08.2021 11:38 Uhr

Irritationen um eine Studie des Leichtathletik-Weltverbandes: Der Medizinische Direktor hat zwar Aussagen über Vorteile für intersexuelle Sportlerinnen durch erhöhte Testosteronwerte zurückgenommen, doch Betroffene hoffen wohl vergeblich auf Konsequenzen.

Von ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt, Peter Wozny, Jörg Winterfeldt

Auf den ersten Blick sah es so aus, als könne die Karriere der 800-Meter-Ausnahmeläuferin Caster Semenya neuen Schwung aufnehmen. Die Südafrikanerin ist die prominenteste Sportlerin, die von der seit 2018 geltenden DSD-Regel des Leichtathletik-Weltverbandes (World Athletics) betroffen ist. DSD ist die englische Abkürzung für "Abweichung von der Geschlechtlichen Entwicklung". Diese Regel schließt Athletinnen, deren Testosteronwert im Blut einen bestimmten Grenzwert überschreitet, vom Start auf allen Strecken zwischen 400 Metern und einer Meile (ca. 1,6 km) aus.

Doch bevor bei den als intersexuell bezeichneten Athletinnen allzu großer Optimismus auflodern konnte, entpuppte sich alles auf den zweiten Blick weitgehend als Sturm im Wasserglas. Den Stoff, dem die Sprengkraft innewohnen soll, hatte das "British Journal of Sports Medicine" (BJSM) kürzlich in der Rubrik "Verschiedenes" publiziert. Überschrieben war er mit einem Wort: "Korrektur".

Aussagen irreführend

Nun sind "Korrekturen" in wissenschaftlichen Kreisen nicht ungewöhnlich. Doch die Studie, die hier korrigiert wurde, sollte einen Zusammenhang zwischen hohen Testosteronwerten und besseren Leistungen bei Leichtathletinnen beweisen. Die Autoren erkennen nun aber an, dass entsprechende "Aussagen irreführend sein könnten". Die Untersuchung soll laut Korrektur nur noch belegen, dass in den Disziplinen 400m, 400m Hürden, 800m, Hammerwurf und Stabhochsprung die besseren Athletinnen höhere Testosteronwerte aufwiesen, nicht aber einen ursächlichen Zusammenhang.

Der Vorgang ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Zum einen handelt es sich bei einem der beiden Autoren um den Franzosen Stéphane Bermon, den Medizinischen Direktor von World Athletics. Zum anderen war die Studie 2017 als eine Art Auftragsarbeit des Internationalen Sportgerichtshofs CAS entstanden. Der hatte im Verfahren um die indische Läuferin Dutee Chand, ebenfalls eine DSD-Athletin, World Athletics angemahnt. Der Weltverband solle gefälligst wissenschaftliche Nachweise präsentieren, bevor er Athletinnen wegen angeblich unfairer Vorteile das Startrecht abspricht. Bermon und sein Verband standen seinerzeit also unter Zugzwang.

Schwächen der Studie waren bekannt

Es geht dabei um Athletinnen wie Caster Semenya, die das Chromosomenpaar XY aufweisen und deren Körper auf natürliche Weise das Sexualhormon Testosteron in Mengen produziert, wie es üblicherweise nur bei Männern der Fall ist. Die Studie von World Athletics sollte das Wissen um die Wirkung von Testosteron noch einmal unterfüttern. Allerdings: Als der internationale Sportgerichtshof CAS 2018 die Klage von Semenya gegen den Weltverband abwies und die Regel von World Athletics bestätigte, hatte die strittige und jetzt korrigierte Studie kaum eine Rolle gespielt. Denn die Schwächen des Papiers waren den Verfahrensbeteiligten schon damals bekannt. Das Papier war wissenschaftlich so angreifbar, dass es im Semenya-Verfahren von deren Experten-Team regelrecht zerpflückt wurde.

World Athletics führte vor diesem Hintergrund anstatt der Studie alternative wissenschaftliche Grundlagen basierend auf der Expertise von 42 international führenden Sportwissenschaftlern an: Sie waren sich einig hinsichtlich der Wirkung von erhöhten Testosteronwerten bei Frauen. Alle drei CAS-Richter waren in der Folge überzeugt, dass "Testosteron die Hauptursache für den Geschlechterunterschied in der sportlichen Leistung ist". Und zwei der drei Richter überzeugten die vom Weltverband vorgelegten weiteren Dokumente. Das höchste Sportgericht hielt damals im Urteil fest: "Testosteron mag nicht der einzige Faktor sein, der sich in fettfreier Körpermasse, höherem Hämoglobin-Niveau und größerer sportlicher Leistung niederschlägt, aber der Sachverständigenbeweis erklärt, dass es der Hauptfaktor ist."

Weltverband ohne Verständnis für neue Diskussion

World Athletics zeigte sich auf Anfrage der ARD-Dopingredaktion verständnislos über die jetzt erneut aufflammende Debatte. "Die Geschichte ist nun schon drei Jahre alt", schreibt Verbandsprecherin Jackie Brock-Doyle: "Diese Korrektur (...) wurde bereits 2018 angekündigt, noch bevor der CAS unsere Regel bestätigt hatte." Der Weltverband wisse nicht, warum das britische Fachjournal die Aktualisierung erst jetzt - drei Jahre später - veröffentlicht habe.

Unter Wissenschaftlern ist die Kausalität von Testosteron und besseren sportlichen Leistungen kaum umstritten. "Testosteron ist der hauptsächliche Faktor für die Unterschiede in der sportlichen Leistungsfähigkeit von Männern und Frauen", erklärt der renommierte Testosteron-Experte Eberhard Nieschlag, ehemaliger Direktor des Instituts für Reproduktionsmedizin an der Universität Münster. Im Hinblick auf den Sport sei das Hormon verantwortlich für Muskelmasse und -kraft, sowie für die rote Blutbildung und die Knochenmasse. "Da Männer deutlich mehr Testosteron als Frauen im zirkulierenden Blut aufweisen, sind Männer im Sport zu höheren Leistungen in der Lage als Frauen", so Nieschlag.

Experimente wären ethisch nicht vertretbar

In einem Instagram-Video zeigt der Südafrikaner Ross Tucker, damals einer der Sachverständigen im Semenya-Verfahren und harter Kritiker des Weltverbandes, sogar Verständnis für die magere Qualität der damaligen Studie von World Athletics. Wissenschaftliche Experimente an Frauen, bei denen man durch Testosteron-Gaben den Einfluss des Hormons auf die Leistungsfähigkeit erforschen würde, seien wegen der damit verbundenen Gesundheitsgefahren in keiner Weise vertretbar. Der CAS habe aber damals World Athletics mit dem Arbeitsauftrag, wissenschaftliche Studienbelege anzuführen, quasi zu einer Quadratur des Kreises gezwungen: "Eine gute Studie wäre unethisch, und die ethischen Studien sind einfach nicht sehr gut."