Alfred Gislason spricht in einer Auszeit mit seinen Spielern

Der Bundestrainer im Porträt Alfred Gislason: Die Mission des pünktlichen Isländers

Stand: 05.01.2024 16:59 Uhr

Die Erwartungen an Alfred Gislason sind groß. Der Bundestrainer soll die Handball-Nationalmannschaft bei der EM in Deutschland zu einer Medaille coachen. Mit Druck weiß der 64-Jährige umzugehen - ein persönlicher Schicksalsschlag lässt ihn anders aufs Leben blicken.

Von Christian Görtzen

Rückblickend war das eine ziemlich gute Idee, die Adelheidur Alfredsdottir und Gisli Hjartarson damals rund um den 7. September 1959 hatten. Alfred nannten sie ihren zweitgeborenen Sohn – der Name setzt sich aus den Begriffen "Naturgeist" und "Ratgeber" zusammen. Im weiteren Verlauf der Jahrzehnte sollte sich zeigen, dass dieser früh nach Erfolg strebende Alfred Gislason aus Akureyri im Norden Islands diesen Namen förmlich mit Leben ausfüllte.

Mutter fördert früh selbstständiges Handeln

Fünf Geschwister saßen in Kindertagen neben ihm am Tisch, darunter vier Brüder. Da war von Anfang an Durchsetzungswille gefragt. "Sie waren immer hungrig, unsere Kinder. Wenn man zu spät zum Essen kam, war nichts mehr da", sagt Alfredsdottir. Der ehemaligen Bankangestellten lag es am Herzen, dass ihre Kinder sich früh eigene Gedanken machten. "Ich habe nie gesagt, seid ruhig und macht das so, wie ich es will. Mir war wichtig, dass sie ihr Bestes geben und selbstständig handeln. Und das von Beginn an."

Alfred Gislason (r.) am Essenstisch mit seinen Eltern in seiner Heimat in Island.

Alfred Gislason (r.) mit seinen Eltern in Akureyri auf Island.

Ihre Söhne schafften es allesamt – in verschiedenen Sportarten – in isländische Nationalmannschaften. "Ich glaube, wir haben damit den isländischen Rekord", sagt Alfred Gislason mit einem Schmunzeln, als er Ende September seine Familie in Akureyri besucht, mit heute 20.000 Einwohnern die viertgrößte Stadt des Inselstaates.

Nach Krebstod seiner Frau – Gislason findet zweite große Liebe

Gislason ließ sich beim Trip in seine Heimat von der Sportschau begleiten, die von Reporter Hendrik Deichmann produzierte Dokumentation "Alfred Gislason - Schicksalstage des Bundestrainers" ist in der ARD Mediathek und am Sonntag, 7. Januar, um 16.50 Uhr in der ARD zu sehen.

Auf Island begleitet Gislason seine Lebensgefährtin Hrund Gunnsteinsdottir, die er ein Jahr nach dem Krebstod seiner Frau Kara kennenlernte, und durch die "wieder Fröhlichkeit in sein Leben zurückgekehrt ist", wie sein älterer Bruder Hjörtur es beschreibt.

"Alfred" – der Ratgeber mit der naturgegebenen Kraft

Dem imponiert an Alfred besonders dessen Hartnäckigkeit: "Er ist sehr stur. Wenn er er ein Ziel hat, will er es unbedingt erreichen." Gunnsteinsdottir spricht bei ihrem Alfred von einem "großartigen Charakter, er ist explosiv in vielen Dingen". Und er habe eine ganz besondere Gabe, sagt die Buchautorin.

"Er kann gut Menschen und ihre Charaktere lesen, und er ist wirklich interessiert an ihnen. Ich könnte mir vorstellen, dass dies angeboren ist. Das ist nicht etwas, das man unbedingt lernt. Das ist eine Art Instinkt", so Gunnsteinsdottir. "Er kümmert sich sehr darum, wie sich die Spieler fühlen. Er will für sie da sein, um das Beste aus ihnen herauszuholen, und das macht ihn zu einem wirklich sehr guten Coach."

Gislason mit DHB-Auswahl noch ohne großen Erfolg

Dass der ehemalige, kraftvolle Rückraumspieler von TuSEM Essen in die Kategorie "sehr guter Coach" fällt, weist auch seine Vita aus. Er ist der einzige Trainer, der mit zwei Vereinen (SC Magdeburg 2002, THW Kiel 2010 und 2012) die Champions League gewann. Hinzu kommen unter anderem noch sieben deutsche Meisterschaften und sechs Pokal-Triumphe. Nur mit der DHB-Auswahl gab es bislang noch nicht viel zu feiern. Seit knapp vier Jahren ist er Bundestrainer, der fünfte Platz bei der WM 2023 ist bislang die beste Platzierung.

Alfred Gislason hält die Champions-League-Trophäe in der Hand

Alfred Gislason beim Gewinn der Champions League mit dem THW Kiel 2012.

Bei der EM 2024, bei der Gastgeber Deutschland in der Vorrunde auf die Schweiz (10. Januar, 20.45 Uhr), Nordmazedonien (14. Januar, 20.30 Uhr) und Frankreich (16. Januar, 20.30 Uhr, live in der ARD und im Stream auf sportschau.de) trifft, wird mehr erwartet vom Isländer, der von 1983 an die meiste Zeit in Deutschland gelebt hat.

Deutsche Mannschaft freut sich auf das Heimturnier

Sportschau, 04.01.2024 15:45 Uhr

Das halbe Leben hier sei nicht ohne Folgen geblieben. "Ich bin ziemlich deutsch geworden, das sagen meine Freunde. Ich bin ungewöhnlich pünktlich für einen Isländer", sagt Gislason und lacht. "Ich denke schon, dass die Isländer sehr flexibel sind, aber das Planen nicht immer ihre Stärke ist. Sie sind irgendwie immer noch Jäger und Sammler."

Ich bin ungewöhnlich pünktlich für einen Isländer.
Handball-Bundestrainer Alfred Gislason

Nationalspieler, die schon vor vielen Jahren unter Gislason im Verein trainiert haben, sehen weitere Veränderungen an ihm. Wie etwa Rune Dahmke vom THW Kiel. "Ich finde, dass er in den letzten Jahren viel, viel lockerer geworden ist", so der Linksaußen. "Und ich glaube, dass er als Bundestrainer noch mal einen anderen Fokus darauf legt, dass gute Stimmung ist. Es ist ja immer nur ein kurzer Abschnitt. Da ist es extrem wichtig, dass das Teamgefüge passt."

Gislason räumt offen ein, dass er früher als Klubtrainer Fehler machte. "Ich war ein ziemlicher Diktator. Ich ging zu weit mit meiner Kritik oder wie ich mit Leuten umgegangen bin", sagt der 64-Jährige, dem aber auch wichtig ist: "Ich habe mir aber auch immer gesagt: Ich werde es nie so machen wie ein paar Trainer von mir, die auf eine Frage von mir geantwortet haben: 'Halt den Mund und mach, was ich sage.'" Er hat dieses Prinzip von seiner Mutter übernommen.

Ich war ein ziemlicher Diktator.
Alfred Gislason

Die Einsicht, dass er im Umgang mit seinen Spielern oftmals zu schroff gewesen war, ist Gislason offenbar schon vor fünf, sechs Jahren gekommen. Dahmke attestiert ihm für "die letzte Zeit als Vereinstrainer eine viel lockerere Art". Auch das Einsammeln von Titeln, das Erreichen von Zielen, dürfte mit zunehmendem Alter zu einer entspannteren Haltung geführt haben.

Karas Tod lässt Gislason anders aufs Leben blicken

Am 31. Mai 2021 verschoben sich auf brutale Weise alle Relationen, was wichtig ist im Leben. Seine Frau Kara erlag ihrem Krebsleiden. Gislason war fortan allein auf dem restaurierten Resthof in der 50-Seelen-Gemeinde Wendgräben bei Magdeburg. "Wir wollten reisen, hier viel machen und das Leben genießen. Wir hatten die Hoffnung, dass wir es nach hinten verzögern könnten, auch wenn wir wussten, dass es nicht heilbar ist", sagt er.

Gislason fiel es enorm schwer, aber er setzte seine Mission als Bundestrainer fort. Und nun im Januar soll sie zu einem Erfolg führen. Ein Medaillenrang wäre ein solcher, der Titelgewinn natürlich das Wahrwerden eines Traumes. "Gerade so ein Turnier zu Hause in Deutschland – da baut sich schon eine Anspannung auf. Aber das ist mehr so eine positive Anspannung, eine Vorfreude auf das, was kommt. Und wenn es gut läuft, ist ganz Deutschland im Handballfieber", so der Bundestrainer.

Alfred Gislason spricht in einer Auszeit mit den Spielern der deutschen Handballnationalmannschaft

Gislason will mit dem DHB-Team bei der Heim-EM 2024 ins Halbfinale.

Und nach dem Spektakel? Irgendwann auch wieder mit Lebensgefährtin Hrund nach Island, zu den eigenen Eltern, natürlich an Karas Grab. In den Norden der Vulkaninsel mit seinen manchmal etwas eigenwilligen Menschen, nach Akureyri, das von einer rauen Schale, einer schroffen Landschaft, umschlossen ist, das im Kern aber viel Wärme ausstrahlt – das Rotsignal an den Ampeln leuchtet in Herzform.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau Handball-EM 2024 | 07.01.2024 | 16:50 Uhr