EURO 2020 Der Fußball in der Hand der UEFA - Gunter Gebauers Kritik an der EURO

Stand: 12.07.2021 11:25 Uhr

Menschenrechte und Toleranz seien für die UEFA nicht mehr als "Werbesprüche", München habe sich in der Regenbogen-Affäre wie ein Azubi verhalten, und Johnson und Orban hätten durch die EURO beweisen können, dass sie das Virus im Griff haben. Sportphilosoph Gunter Gebauer im Interview mit der Sportschau.

Von Tom Klees

Sportschau: Herr Gebauer, die Weltgesundheitsorganisation WHO macht die zunehmenden Zuschauerzahlen in den Stadien der Fußball-EM mitverantwortlich für einen Anstieg der Corona-Infektionen in Europa. Gleichzeitig haben wir etwa in Budapest ein ausverkauftes Stadion und 60.000 Menschen im Wembley-Stadion gesehen. Für das Halbfinale und das Finale wurde sogar die Maskenpflicht ausgesetzt. Warum lassen die Verantwortlichen das zu?

Gebauer: Sowohl Boris Johnson in Großbritannien als auch Viktor Orbán in Budapest haben gewisse Interessen, die deutlich werden, wenn man sich anschaut, was für Persönlichkeiten das sind und welche Politik sie gemacht haben. Bei Orbán ist klar, dass er versucht, den Joker der UEFA zu spielen. Immer dann, wenn die UEFA Länder zwingen will, bestimmte Zuschauerzahlen zuzulassen, kann sie Budapest ins Spiel bringen. Und Orbán freut sich darüber, dass Budapest mit seinen knapp 60.000 Zuschauern jedes Mal von neuem die Tore öffnen und bestimmte Länder konterkarieren kann, die sich vor der Pandemie schützen wollen.

Sportschau: Auf diesen Maßnahmen klebt also ein Anti-EU-Label?

Gebauer: Ja, einmal ein Anti-EU-Label und das zweite ist natürlich ein Persönlichkeitszug, den man bei beiden Herren konstatieren kann. Eine Übertreibung des Machtstrebens und eine Überschätzung der eigenen Macht. Nach dem Motto "Ich stelle mich mal gegen das Virus und mache ihm Angst". Das sehen wir ganz genauso in Brasilien mit Bolsonaro. Es ist offenkundig so, dass sie sich zelebrieren und darstellen wollen als Machtmenschen, die in der Lage sind, so ein Virus einfach in die Schranken zu weisen. Man braucht nur ihren körperlichen Habitus anschauen, wie sie so dastehen. Man hat das Gefühl, sie strecken die Brust raus, sie spannen den Bizeps an. Wie Supermänner, die dem Unbillen trotzen. Anders als die Weichlinge aus Kontinental- bzw. Westeuropa.

Sportschau: Mit welchem Ziel?

Gebauer:Es gibt genügend Leute, die diese Attitüde großartig finden und bereit sind, solchen Menschen zu folgen. Das ist wie bei einer jungen Gang, die loszieht und andere das Fürchten lehren möchte. Sowohl Orbán als auch Boris Johnson haben eine parlamentarische Mehrheit, die ihnen auf Gedeih und Verderb folgt. Sie können eigentlich alles machen, was sie wollen und ziehen nun durch die Gegend, um andere vernünftigere, bescheidenere und demokratischere Politiker zu beschämen.

"Die UEFA hält das Lieblingsspielzeug der Europäer in den Händen"

Sportschau: Schauen wir auf das Vorgehen der UEFA. Sie hat Spielorten wie Dublin oder Bilbao, die keine Zuschauer zulassen wollten, die Fußballspiele weggenommen und Sankt Petersburg gegeben. Welches Signal sendet die UEFA damit aus?

Gebauer: Sie sendet die Botschaft "Wir, die UEFA, wenden uns gegen diejenigen, die uns nicht folgen". Die UEFA wirkt wie eine ganz normale Organisation. Aber sie hat eine unglaubliche Machtfülle, weil sie das Lieblingsspielzeug der Europäer in den Händen hält. Es gehört ihnen zwar nicht, sie spielen ja nicht selbst Fußball, sie produzieren auch nichts. Sie nehmen es nicht einmal auf, aber sie verkaufen es. Die UEFA hat ein Monopol darüber, wer dieses Spiel als Austragungsstätte bekommt und welche Sanktionen möglicherweise erlassen werden, wenn jemand dieses Spiel nicht mitmacht. Die UEFA hat kein politisches Mandat dafür. Sie hat es irgendwann im Laufe der Geschichte geschafft, dieses Spiel in die Hand zu bekommen. Und jetzt nutzen sie es als Machtmittel gegen einzelne Staaten.

Sportschau:Was sagt dieses Vorgehen über die UEFA als Organisation aus?

Gebauer: Die UEFA handelt wie andere Sportorganisationen auch. Sie handelt ähnlich verantwortungslos wie die FIFA. Und auch ähnlich verantwortungslos wie das IOC, das im Augenblick die Winterspiele in Peking vorantreibt. Obwohl man weiß, dass in China eine ganze Reihe von Menschenrechtsverletzungen geschehen. Das sind egozentrische Organisationen in dem Sinne, dass sie nur ihren eigenen Erfolg und ihre eigene Fortpflanzung betrachten. Und alles andere kaputttreten, was um sie herum ist.

Toleranz und Menschlichkeit als reine Werbesprüche?

Sportschau: Andererseits schmückt sich die UEFA gerne mit Werten wie Toleranz oder Menschlichkeit. Wie glaubhaft ist das in Anbetracht von Spielorten wie Budapest, Sankt Petersburg und Baku?

Gebauer: Das sind reine Werbesprüche. Das ist wie bei anderen Sportorganisationen auch. Man sieht ja, dass die UEFA nicht wirklich dahintersteht. Die nehmen ein paar Menschenrechte als Etikette, packen diese in ihre Präambel und beauftragen dann eine Werbeagentur damit, Werbung zu machen. Wenn es aber dann zum Schwur kommt, dann stellt man fest, dass von diesen Werten nicht mehr viel übrig bleibt. Das Interessante ist ja, dass diese Institutionen in der Lage sind zu definieren, was sie unter Menschenrechten oder einem freiheitlichen Sporttreiben verstehen. Das ist ja nicht das, was man normalerweise in einem Politikdiskurs oder einem philosophischen Diskurs darunter verstehen würde. Wenn man genau hinguckt, sind diese Werte für die Veranstalter und die Mitglieder solcher Sportorganisationen keineswegs edel oder unantastbar. Ganz im Gegenteil: Sie können bei jeder Gelegenheit über Bord geworfen werden. Natürlich auch dann, wenn Spiele in Ländern stattfinden, in denen Menschenrechte mit Füßen getreten werden.

Die Euro als Ritterschlag für das Regime

Sportschau: Etwa wie in Aserbaidschan, wo Vorrundenspiele und ein Viertelfinale gespielt wurden…

Gebauer:Die UEFA weiß, was in Aserbaidschan passiert. Selbstverständlich. Aber es interessiert sie nicht. Es interessiert sie deswegen nicht, weil sie keine Vorstellung von Menschenrechten hat. Das sind für sie reine Werbefloskeln und dadurch nicht mit Bedeutung gefüllt. Man sagt einfach "Überall, wo wir mit dem Fußball hinkommen, da gibt es Menschenrechte und da garantieren wir, dass Menschenrechte gewährt werden". Was sie damit meinen ist "Man darf Fußball spielen". Das ist alles.

Sportschau: Welche Verantwortung hat denn ein Sportverband wie die UEFA, wenn er Turniere in Ländern wie Aserbaidschan vergibt?

Gebauer: Ich glaube, dass die UEFA eine ziemliche Verantwortung hat, weil die Vergabe eines solchen Spiels eine Ehre für ein Land bedeutet. So verkauft es die Führung des Landes gegenüber den eigenen Bürgern. Das bedeutet, die Führung wird sagen "Das ist ein Beweis dafür, dass unser Land anerkannt ist, dass wir politisch gute Arbeit leisten, dass wir im Herzen Europas sind, dass man uns die Ehre gibt, dieses Spiel zu veranstalten." Das muss man sich vorher überlegen, ob man einem Regime wie dem in Baku diese Möglichkeit gibt, sich vor der eigenen Bevölkerung so darzustellen.

Kein Regenbogen in München - ein Eigentor für die Stadt

Sportschau: Ein weiteres viel diskutiertes Thema ist die Beleuchtung des Münchener Stadions beim Vorrundenspiel Deutschland gegen Ungarn. Die UEFA untersagte hier eine Beleuchtung des Stadions in Regenbogenfarben als Zeichen für Vielfalt und Toleranz.

Gebauer: Da muss man zunächst einmal sehen, dass München einen Vertrag mit der UEFA geschlossen hat. Und in diesem Vertrag steht, dass das äußere Erscheinungsbild der Austragungsstätte von der UEFA bestimmt wird. Wenn die Stadt München einen solchen Vertrag mit der UEFA schließt, dann bedeutet das, dass sie sozusagen ein kleiner Azubi ist, der sich alles von seinem Chef diktieren lässt. Wenn man vernünftig denkt, dann weiß man, dass die UEFA politisch fragwürdig ist mit ihrem Präsidenten Čeferin, der wiederum ein großer Freund des Regierungschefs von Ungarn ist. Und da muss man auf der Hut sein. Wenn man alles akzeptiert, bloß um so ein Spiel zu bekommen, dann hat man sich verkauft. Wenn der Oberbürgermeister jetzt in guter Absicht, das will ich ausdrücklich sagen, sich hinstellt und sagt: "Wir wollen diese Regenbogenbeleuchtung machen, um gegen die Politik Ungarns zu protestieren", dann muss er auch einsehen, dass er diese Beleuchtung politisch einsetzen will. Und vertraglich hat er versprochen, dass er solche politischen Akte unterlässt. Also ich würde sagen, das ist ein Eigentor.

Eine EM, die in Erinnerung bleibt

Sportschau: Sportorganisationen sprechen gerne von einer Legacy, von einem Erbe, das die Sportereignisse hinterlassen. Abgesehen vom Sportlichen, was wird das Erbe dieser Europameisterschaft sein?

Gebauer: Es ist im Augenblick noch ein bisschen früh, das zu sagen. Aber was auf jeden Fall in Erinnerung bleiben wird, ist der Dissens um die Regenbogenbeleuchtung in München. Auch das Spiel, das UEFA-Präsident Čeferin zwischen den westeuropäischen Austragungsstätten, insbesondere London und Budapest gespielt hat. Dieses Machtgerangel, bei dem er letztlich Sieger geblieben ist. Und schließlich der Opportunismus der Politiker, die zu verantworten haben, dass in ihren Stadien volles Haus geherrscht hat. Boris Johnson, Wladimir Putin und Viktor Orbán. Das sind sozusagen drei Leuchttürme, die ihre Botschaft in die Welt gesendet haben. Sodass klar ist, wenn jetzt wieder eine Pandemie-Welle losbricht, dann müssen wir nicht lange suchen, um eine Ursache dafür zu finden.