Chefscout Thomas Schneider (r.) und Bundestrainer Joachim Löw

EURO 2020 Achtelfinale - Jetzt schlägt die Stunde des deutschen Scouting-Teams

Stand: 26.06.2021 13:55 Uhr

Akribisch bereitet sich die DFB-Mannschaft auf das EURO-Achtelfinale gegen England vor. Schließlich will man nicht noch einmal überrascht werden. Eine Schlüsselrolle fällt Chefscout Thomas Schneider mit seinem Team zu.

Nicht wenige Experten erwarten, dass England für den Klassiker im EM-Achtelfinale im Londoner Wembley-Stadion am Dienstag (29.06.2021) auf drei Abwehrspieler umstellt. Diesmal wollen sich die deutschen Spielanalysten um Chefscout Thomas Schneider davon nicht mehr überrumpeln lassen. So wie im März 2017, beim Länderspiel in Dortmund.

Schneider: "Erwartet hatten wir sie anders"

Damals wurden das deutsche Scoutingteam von den "Three Lions" überrascht. Englands Nationaltrainer Gareth Southgate ließ seine Auswahl plötzlich mit Dreierkette spielen. "Im Vorfeld hatten wir das zwar thematisiert", sagte Chefscout Schneider rückblickend, schließlich habe Southgate das englische Spiel "grundlegend verändert". Doch Schneider gab auch zu: "Erwartet hatten wir sie anders."

Scouting-Abteilung von entscheidender Bedeutung

Einen solchen Fauxpas soll und darf es in der Vorbereitung auf das EURO-Achtelfinale nicht noch einmal geben. Denn gerade in der K.o.-Runde eines Turniers ist die Bedeutung der Scouts und ihrer Arbeit noch entscheidender für Erfolg oder Misserfolg. Auf die Gruppenphase konnten sich die Trainer noch über Monate auf die drei Gegner vorbereiten - jetzt muss das Gegner-Puzzle binnen weniger Tage zusammengesetzt sein. Schneider ist dafür hauptverantwortlich.

Konkretes Aufgabengebiet: Die Analyse des Gegners

Der 48-Jährige gab seinen Posten als Assistent von Bundestrainer Joachim Löw nach dem historischen WM-Desaster 2018 auf und wurde Leiter der Scouting-Abteilung. "Mein konkretes Aufgabengebiet ist die Gegneranalyse", sagt Schneider. Mit seinem Team bereitet er Stärken und Schwächen des jeweils nächsten Kontrahenten für Löw und dessen Assistenten Marcus Sorg auf. "Wir bieten verschiedene Optionen an, wie man agieren kann", sagt er. Dabei komme es immer wieder zu "Abweichungen von dem, was wir erwarten".

Um den Überraschungseffekt so gering wie möglich zu halten, überlassen Schneider und seine Mitstreiter nichts dem Zufall. Ihre Erkenntnisse teilen sie täglich "ein- bis zweimal mit der Mannschaft", wie Christofer Clemens, der Leiter Scouting, Spielanalyse und Diagnose, berichtet. Außerdem machten "die Trainer unheimlich viel in Einzelgesprächen, wo sie Bildmaterial, Szenen und Daten von uns nutzen".

Analyse ein "komplett datengestützter Prozess"

Clemens und sein Kollege Stephan Nopp sind bei der EM ständig bei der Mannschaft. Zu Schneiders Team gehören zudem ein weiterer Analyst und zwei Scouts. Unterstützt werden sie vom "Team Köln" an der Deutschen Sporthochschule - rund 50 Studenten und deren Ausbilder, die laut Schneider "einen wichtigen Beitrag leisten". Die Analyse, sagt Clemens, sei "mittlerweile ein komplett datengestützter Prozess. Das heißt: Wir haben alle Daten von den Spielern." Er füttert Thomas Müller und Co. aber nicht mit Zahlen oder Fakten, sondern arbeitet "bildgebend" mit Filmmaterial. Dafür stehen im "Campo" in Herzogenaurach riesige Videotafeln bereit.

Die Mannschaft will Lösungen

Wenn die Spieler dort Szenen studieren, wollen sie laut Clemens keine bloßen Zustandsbeschreibungen aufgezeigt bekommen, sondern: "Die Jungs wollen Lösungen." Und das nicht nur vor dem Spiel. Clemens und Nopp sitzen bei der EM auf der Stadiontribüne. Dort haben sie auf einem Computer das Live-Bild vor sich. Ihre Erkenntnisse senden sie Löws Assistent Sorg über einen Knopf im Ohr direkt an den Spielfeldrand.

Siegenthaler: "Wir sind immer gut vorbereitet"

"Es gibt eine stetige Kommunikation darüber, welche Dinge aus dem Matchplan gut funktionieren oder wo es Optimierungsbedarf gibt", sagt Clemens. Damit dieser Bedarf gegen England möglichst gering ausfällt, unternahm Urs Siegenthaler zum Turnierstart eine Dienstreise. Schneiders Vorgänger, der über Jahre als Löw-Einflüsterer galt und inzwischen im Aufgabenbereich "Entwicklungen im Fußball" Spiel- und System-Trends erforscht, flog nach London. Dort beobachtete er die "Three Lions" im Vorrundenspiel gegen Kroatien (1:0). Sein Motto, damit es mit dem Viertelfinale klappt: "Wir sind immer gut vorbereitet."