Luciano Spalletti, Trainer der italienischen Nationalmannschaft

EM-Quali gegen England Wembley statt Weinlese - Spallettis schwieriger Auftrag

Stand: 16.10.2023 14:40 Uhr

Von Formkrise und einem Wettskandal gebeutelt, geht Italien als Außenseiter in die Neuauflage des EM-Endspiels gegen England. Ein Hoffnungsträger des Titelverteidigers ist Neapels Meistertrainer Spalletti, der im Nationalteam auf eine Generation der bislang unerfüllten Versprechen setzt. 

Luciano Spalletti wollte in diesen Tagen Trecker fahren. Und die Sangiovese- und Merlot-Trauben auf seinem Weingut bei Montaione zum Keltern bringen, für einen guten Jahrgang seines Rotweins Bordocampo. Zwischen den Hügeln der Toskana ein Sabbatjahr genießen und vom Fußball abschalten, das war der Plan. Nach dem gewonnenen Meistertitel mit dem SSC Neapel, vor allem aber zwei aufzehrenden Jahren unter Neapels egomanischem Vereinspräsidenten Aurelio Di Laurentis.

Nun aber führt Spalletti Italiens Nationalmannschaft in die Neuauflage des Europameisterschaftfinals gegen England. Trainerbank statt Treckersitz, Wembley statt Weinlese. Neapels Meistermacher eilt zu Hilfe, weil Italien mitten in der Qualifikation ohne Trainer dastand. Der einstige Volksheld Roberto Mancini hatte hingeworfen, um als Nationaltrainer in Saudi-Arabien das Fünffache zu verdienen. Die Squadra Azzurra war nach dem Triumph in Wembley immer mehr ins Taumeln geraten, die Erinnerung an den Siegesjubel von Chiellini und Co. wirkte wie ein verblasstes Bild aus weit zurückliegender Vergangenheit.

Wettskandal überschattet die EM-Qualifikation

Nun soll Spalletti den von Mancini halbherzig versuchten Generationenwechsel schaffen - und Italien als Titelverteidiger doch noch zur Europameisterschaft nach Deutschland führen. Denn nach der verpassten WM in Katar hat die Squadra Azzurra Schwierigkeiten auch in der EM-Qualifikation. Hinter Tabellenführer England ringt Italien derzeit um Platz zwei mit der Ukraine.

Als wären das nicht schon genug Probleme, kommt noch ein Wettskandal dazu. Zwei Spieler sind darin verwickelt, die Spalletti fest eingeplant hatte für den Neustart: Mittelfeldmann Sandro Tonali (23, Newcastle) und Stürmer Nicolò Zaniolo (24, Aston Villa).

Die Turiner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die beiden Nationalspieler wegen Wetten und Glücksspiels auf illegalen Plattformen. Polizisten kamen ins Trainingszentrum Coverciano, um Tonali und Zaniolo anzuhören, der Verband schickte beide nach Hause. Tonali hat sich nach italienischen Medienberichten mittlerweile in eine Therapie gegen Spielsucht begeben.

Hoffnungsträger Bonaventura

Schwerpunktmäßig arbeitete Spalletti nach den turbulenten Tagen in Coverciano als Pädagoge. Im Anschluss an das 4:0 gegen Malta lobte er seine verbliebenen Spieler, dass sie "aufmerksam und konzentriert" geblieben sind.

Hoffnung für das Finalrevival in Wembley macht ein Kicker, bei dem Spalletti zugibt: Er habe sich erst nicht getraut, ihn einzuladen, weil er ihn für zu alt hielt. Aber Giacomo Bonaventura von der AC Florenz ist mit seinen 34 Jahren derzeit einer der formstärksten Spieler in der Serie A. Auch mit seinem Treffer gegen Malta (keiner war bei seinem Premierentor im Nationalteam älter!) zeigte Bonaventura, warum sie in seinen Jugendjahren über den Mittelfeldtechniker raunten: "Das wird mal einer wie Baggio."

Altersmäßig ist Bonaventura die Ausnahme im neuen Nationalteam made by Spalletti. Fast alle Ü30-Stars des EM-Triumphes sind nicht mehr dabei, auch nicht Neu-Unioner Leonardo Bonucci. Stattdessen setzt Spalletti auf Mit-Zwanziger. Darunter einige, die in Italien als Talente galten, sich aber bereits in den frühen Jahren ihrer Karriere zu verlaufen drohten.

Spalletti setzt "alles auf Null"

Eine Symbolfigur der von Spalletti versuchten Rettung der Generation der unerfüllten Versprechen ist Moise Kean (23) von Juventus Turin. Mit 18 Jahren stand der kraftvolle Mittelstürmer mit ivorischen Wurzeln bereits im italienischen Nationalteam. Danach klagten viele Trainer, Kean verschleudere sein Talent. Alles auf Null, sagt nun Spalletti. Ihn interessiere nicht, was vorher war. "Ich behandele meine Spieler wie besondere Menschen", sagt der neue Commissario tecnico, "dafür verlange ich aber auch besondere Leistungen." Gegen Malta war Kean, der bei Juve keinen Stammplatz hat, einer der stärksten. 

Andere Mit-Zwanziger, auf die Spalletti setzt und die in ihrer Karriere noch Luft nach oben haben, sind Keans Sturmkonkurrent Gianluca Scamacca (24), nach Vereinshopping jetzt bei Atalanta Bergamo, der in den Wettskandal verwickelte frühere Römer Zaniolo (24), der derzeit verletzte Federico Chiesa (25) von Juventus, sein seit Jahren hochgelobter Vereinskollege Manuel Locatelli (25) sowie Neapels Ergänzungsspieler Giacomo Raspadori (23). Auch EM-Held Gianluigi Donnarumma (24) im Tor, zuletzt mit durchwachsenen Leistungen, wird von Spalletti gestärkt. 

Totale Hingabe und Respekt

Von allen wünscht sich Spalletti in der Nationalmannschaft "totale Hingabe" - und Respekt. Er wolle, ließ er wissen, keinen Nationalspieler, der "mit Kopfhörern über den Ohren wie ein Idiot durch Coverciano wackelt". Diejenigen, die sich nicht daran hielten, könnten ihre Karriere selbstverständlich fortsetzen, schob der 64-Jährige hinterher, "aber ohne mich".

Spalletti selbst ist vom Trecker gestiegen, weil die Nationalmannschaft die schönste Sache, "una cosa bellissima“, sei. Jahrzehntelang stand er in Trainingsanzug und Fußballschuhen am Spielfeldrand, auch in der Champions League. Jetzt als Nationaltrainer findet er das nicht mehr angemessen. In Wembley, wie zuletzt gegen Malta, dürfte Spalletti im eleganten Anzug, sogar mit Krawatte, an der Seitenlinie stehen.