Fußball Fanforscher Gabler zu Corona und Fußball-Fans: "Da bleibt etwas zurück"

Stand: 15.10.2021 12:34 Uhr

Die 2G-Regel hält Einzug in die deutschen Fußballstadien und vielerorts fallen damit die Corona-bedingten Einschränkungen. Doch damit fangen für einige Fans die Probleme erst an. Fanforscher Jonas Gabler erklärt die aktuelle Situation.

Viele Stadien dürfen sogar wieder voll ausgelastet werden. Aber von Normalität kann auf den Tribünen der Fußball-Clubs noch keine Rede sein. Viele Fans sind nach wie vor verunsichert, andere boykottieren die 2G-Regeln sogar. Der 40-jährige Gabler ist Geschäftsführer der Kompetenzgruppe Fankulturen und Sport bezogene soziale Arbeit (KoFaS), hat besonders zu den Ultras geforscht und ein Buch über die Szene geschrieben.

Herr Gabler, auch wenn die Stadiontore wieder weit öffnen, scheint es noch ein langer Weg zurück zur Normalität zu sein. Woran liegt das?

Jonas Gabler: Die Stadiontore öffnen, aber natürlich unter bestimmten Voraussetzungen. Es gibt immer noch Einschränkungen - was 2G oder 3G anbelangt. Dort, wo 3G gilt, bestehen Maskenpflicht, Abstandspflicht und vieles mehr. Man kann sich nicht einfach auf die Stehtribüne zu seinen Freunden stellen, was aber für viele gerade den Reiz ausmacht.

Und unter 2G hält ein Teil der Fans die Kontaktnachverfolgung für problematisch. Personalisierte Tickets sind in den letzten zehn, 15 Jahren von Seiten der Politik immer wieder gefordert worden. Mit dem Ziel, Gewalt oder anderes abweichendes Verhalten zu verhindern. Es ist für die aktive Fanszene, die Ultra-Szene, ein ganz heißes Thema, dass nun durch die Hintertür personalisierte Tickets eingeführt werden und dann bleiben könnten.

Ich glaube, dass die Befürchtungen realistisch sind. Die Kontaktnachverfolgung ist während der Corona-Pandemie natürlich notwendig. Aber die Politik wäre gut beraten, von solchen Forderungen Abstand zu nehmen: Personalisierte Tickets tragen meiner Meinung nach nicht zu sichereren Stadien bei.

Mit wie vielen Fans rechnen Sie denn, die wegen 2G einen Bogen um die Stadien machen?

Gabler: In den Fanszenen wird das kontrovers diskutiert - und die Gruppen kommen zu unterschiedlichen Entscheidungen. Manche sind unter den 3G-Bedingungen ins Stadion gegangen, und für die ist jetzt 2G das No-Go. Andere sagen, 3G kam für uns nicht infrage, aber unter 2G gehen wir wieder hin. Man kann das nicht pauschal sagen. Wahrscheinlich gibt es sogar innerhalb der einzelnen Ultra-Gruppen unterschiedliche Positionen, auch wenn sie dann eine gemeinsame Entscheidung treffen.

Hansa Rostock beschreitet einen Sonderweg: Der Club hält an 3G fest und bietet, nachdem von der Politik die kostenlosen Corona-Tests für alle gestrichen worden sind, selbst vergünstigte Tests für seine Fans an. Ist es der richtige Weg, auf diese Weise den Schulterschluss mit seinen Fans zu üben, auch wenn das der politischen Linie widerspricht?

Gabler: Ich weiß nicht, was da aus der Fanszene gefordert worden ist. Aber es wird in Gesprächen ausgelotet worden sein, was möglich ist und wie der Verein entgegenkommen kann. Die Vereine haben einerseits das Interesse, das Stadion möglichst voll zu bekommen. Andererseits ist die Nachfrage vielleicht gar nicht so groß im Moment. Und wenn dann auch noch große Fan-Organisationen mit dem Weg des Vereins nicht mitgehen, wird es schwierig für den Verein. Ich denke, dass da innerhalb der gesetzlichen Bestimmungen individuelle Wege gefunden werden müssen.

Die Fans von Dynamo Dresden und dem Halleschen FC haben angekündigt, alle Auswärtsfahrten zu Clubs, wo 2G gilt, nicht mitmachen zu wollen. Ähnlich könnte sich auch das Fanlager von Hansa in Bezug auf das Auswärtsspiel beim FC St. Pauli am nächsten Wochenende entscheiden. Wie beurteilen Sie diese Vorgänge?

Gabler: Es ist interessant zu sehen, wie unterschiedlich die Fanszenen mit der Thematik umgehen. Andere Ultra-Szenen haben auf den Tag gewartet, dass 2G eingeführt wird und sie dann wieder ins Stadion gehen können. In Dresden sind die Fans eben auch bei 3G schon wieder ins Stadion gegangen. Dass jetzt andernorts 2G gilt, macht es schwierig für die Fans, weil sie bei jedem Auswärtsspiel mit anderen Voraussetzungen konfrontiert werden und immer wieder aufs Neue entscheiden müssen, wie sie sich verhalten. Aber wir können in der Pandemie einfach nicht so schnell zu einer einheitlichen Linie kommen.

Wir müssen mit diesen individuellen Lösungen leben, bis die Pandemie nur noch eine Epidemie ist. Dann kehren wir zum Zustand von vor Corona zurück. Die Frage ist, was bis dahin aus der Fußball-Kultur und der Fußball-Begeisterung geworden ist.

Zu Beginn der Corona-Pandemie war eines der Hauptthemen die Entfremdung des Profifußballs von seinen Fans. Bleibt da etwas zurück?

Gabler: Ich befürchte es. Viele Menschen haben in den nunmehr anderthalb Jahren einfach erlebt, dass sie das Wochenende anders gestalten können. Sie haben sich von den festen Ritualen entwöhnt. Das ist an sich ein ganz normaler Prozess. Es gibt immer Leute, die sich vom Fußball abwenden. Gleichzeitig gab es aber auch immer junge, neue Leute, die sich vom Stadionerlebnis haben begeistern lassen. Das ist nun anderthalb Jahre ausgefallen.

Einige Leute haben sich auch vom Fußball abgewendet, weil ihnen noch einmal sehr deutlich vor Augen geführt worden ist, dass der Fußball nicht nur ein Sport, sondern eine Unterhaltungsindustrie ist. Und die musste nach einigen Monaten die Produktion wieder aufnehmen. Man muss gucken, inwieweit die Prozesse und Reformen, die DFL und DFB mit der Taskforce Zukunft Profifußball angestoßen haben, diese Fans zufrieden stellen können.

Studien belegen, dass die Bedeutung des Fußballs für viele Fans während der Pandemie stark gesunken ist. Der Großteil hat zwar angekündigt, auch wieder zurückzukehren. Aber viele Clubs konnten selbst bei 50 Prozent erlaubter Auslastung nicht "ausverkauft" melden. Müssen sich die deutschen Proficlubs Sorgen machen?

Gabler: Die letzten eineinhalb Jahre haben auf jeden Fall eine Delle verursacht. Das zeigen auch die Zahlen der Vereine - nach bisher nahezu ungebremstem Wachstum. Es gibt bei den Fans drei Typen: Erstens, die, die die ganze Zeit darauf hingefiebert haben, wieder ins Stadion zu gehen. Zweitens, die, die wieder ins Stadion wollen, aber nicht unter den jetzigen Bedingungen. Und drittens die, die jetzt fernbleiben werden.

Es ist an den Vereinen, ein Publikum zu rekrutieren, wenn der Normalzustand nach der Pandemie wieder hergestellt ist. Sie müssen mit gutem Sport attraktiv sein, aber auch mit einem Fußball, der vielleicht nicht mehr ganz so viel Unterhaltungsindustrie ist und seine gesellschaftliche Verantwortung stärker wahrnimmt.

Der Hamburger SV und Hannover 96 meldeten zuletzt, dass unter 2G jeweils mehr als 35.000 Tickets verkauft worden sind. Wie bewerten Sie die Zahlen - sind das zum jetzigen Zeitpunkt viele Zuschauer oder angesichts früherer Zahlen eher wenig?

Gabler: Ich finde die Zahlen nicht berauschend, da ist sicher noch Entwicklungspotenzial. Im Wesentlichen bedeutet 2G, dass man wieder die Bedingungen von vor der Pandemie hat - zumindest für die Leute, die geimpft oder genesen sind. Einige haben sicherlich andere Rituale gelernt. Aber es gibt auch noch das "Cave-Syndrom": Man hat in der Pandemie gelernt, sich nicht mehr unter vielen Menschen oder in dichtem Gedränge aufzuhalten. Man muss sich da erst wieder umgewöhnen.

Auch für Sie als Fanforscher sind es besondere Zeiten. Ist es spannend, macht die Arbeit besonders viel Spaß?

Gabler: Es ist natürlich eine ganz andere Arbeit. Ich habe mir im letzten Herbst mal ein Spiel unter Pandemie-Bedingungen angeschaut - ansonsten war auch ich nicht im Stadion. Ich fand es interessant, aber zugleich nachvollziehbar, warum das für viele Fans kein attraktives Erlebnis ist.

Die Debatten während der Pandemie, die Kritik am Fußball, dass er seine gesellschaftliche Verantwortung wieder mehr wahrnehmen muss, sind Themen, die uns bei der KoFaS sehr stark beschäftigen. Auf Antidiskriminierung, Partizipation, Dialogförderung, Konfliktschlichtung und -begleitung ist ein größerer Fokus gerichtet worden. Unsere Arbeit ist nicht weniger geworden.

Haben Sie eine Prognose, wann wieder Normalität in deutschen Fußball-Stadien herrschen wird?

Gabler: Im Sommer hätte ich noch gedacht, dass diese Saison größtenteils unter großen Einschränkungen stattfindet. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Öffnungen so schnell kommen würden. So wie es gerade läuft, bin ich zuversichtlich, dass wir im Frühjahr 2022 weitestgehend zum Normalzustand zurückgekehrt sein könnten.

Dann ist 2G womöglich auch schon gar keine größere Einschränkung mehr, weil die meisten Menschen, die nicht geimpft sind, bis dahin genesen sind. Ich könnte mir vorstellen, dass man gänzlich auf 2G verzichten kann, weil es ohnehin niemanden mehr ausschließt, wenn wir Herdenimmunität durch Impfungen und Genesene erreicht haben.

Das Interview führte Florian Neuhauss.

Dieses Thema im Programm:
NDR 2 Sport | 15.10.2021 | 23:03 Uhr