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Wie stark sind Popp & Co.? Der EM-Check für das deutsche Team

Stand: 07.07.2022 09:28 Uhr

Wie stark ist Merle Frohms als Nummer eins? Was macht die Form von Rückkehrerin Alexandra Popp? Klappt das Experiment in der Defensive? Gemeinsam mit Expertin Nia Künzer nimmt die Sportschau das deutsche Team unter die Lupe.

Die Trainerin - akribische Fußballlehrerin mit klarer Ansprache

Martina Voss-Tecklenburg übernahm Ende November 2018 das Amt der Bundestrainerin. Nun bestreitet sie ihre erste Europameisterschaft mit dem DFB-Team. Das Viertelfinal-Aus bei der Weltmeisterschaft vor drei Jahren wurde noch weitgehend als Begleitschaden im Prozess eines Neuaufbaus gewertet - auch wenn er gleichbedeutend mit dem Verpassen des Olympia-Turniers war.

MVT, wie die Bundestrainerin häufig knapp genannt wird, sieht inzwischen wieder "das Potenzial, um den Titel mitzuspielen". Aber etwas anderes, als diesen Anspruch zu formulieren, würde im Land des Rekord-Europameisters auch nur schwerlich akzeptiert werden. Die Expertise der Bundestrainerin, die selbst 125 Länderspiele absolviert hat, ist unbestritten. Die 55-Jährige ist eine akribische Fußballlehrerin, die ihren Spielerinnen mit einer zugewandten Art begegnet.

Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg vor dem Spiel gegen die Schweiz

Blickt optimistisch auf die EM: Martina Voss-Tecklenburg.

Das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie auch knallharte Entscheidungen fällen und klare Ansagen machen kann. Jede Spielerin weiß bei ihr, woran sie ist. Das MVT-Versprechen für die EM: Das DFB-Team soll mit offensivem und dynamischem Fußball begeistern - und weit kommen.

Das sagt Sportschau-Expertin Nia Künzer: "Martina kennt ihre Spielerinnen viel besser als bei der WM vor drei Jahren. Die Pandemie hat den Entwicklungsprozess, von dem sie immer spricht, auf jeden Fall erschwert. Aber sie hat die Zeit gut genutzt, um mit der Mannschaft zu arbeiten. Sie weiß, dass sie bei ihrem zweiten Turnier zeigen muss, dass das Team den nächsten Schritt gemacht hat und in Europa wirklich mithalten kann."

Tor - Frohms statt Schult als Nummer eins

Eine der bislang einschneidendsten Entscheidungen der Bundestrainerin war das klare Bekenntnis zu Merle Frohms als Nummer eins vor der EM. Die 27-Jährige reifte bei Eintracht Frankfurt zur Nationaltorhüterin und vertrat Almuth Schult in ihrer Verletzungs- und Babypause so gut, dass die einstige Welttorhüterin sich erstmals seit 2015 mit der Bankdrückerrolle hinter ihrer Nachfolgerin beim VfL Wolfsburg begnügen muss.

Schult, die nach der EM in die US-Liga wechselt, akzeptierte das zähneknirschend. Die Konkurrenzsituation kann befruchtend wirken, aber auch Konfliktpotenzial bergen.

Frohms ist mit 1,75 Meter etwas kleiner als Schult (1,80 m), aber sehr sprunggewaltig. Fußballerisch und in der Strafraumbeherrschung ist sie mindestens genauso stark wie die langjährige Nummer eins. Vielleicht holt Schult im eins gegen eins ein paar Prozente mehr. Und sicherlich besitzt Frohms noch nicht eine solche Autorität wie Wortführerin Schult.

In Ann-Kathrin Berger steht für den Fall der Fälle eine erfahrene Nummer drei bereit, die als Torhüterin des FC Chelsea zudem ein Heimspiel auf der Insel hat.

Das sagt Sportschau-Expertin Nia Künzer: "Merle Frohms hat mich überzeugt - in Frankfurt, aber auch bei der Nationalmannschaft. Und ich finde es gut, dass die Entscheidung frühzeitig kommuniziert worden ist. Aber auch Almuth Schult hat nach ihrem Comeback in Wolfsburg sehr stark gehalten. Die Frage, wer von den beiden spielt, ist ein echtes Luxusproblem."

Abwehr - Problemzone Innenverteidigung

Die Abwehr ist die größte Baustelle in der Nationalmannschaft, genauer gesagt: die Innenverteidigung. Die Bundestrainerin hat auf den zentralen Positionen in der Viererkette viel probiert - mit keinem wirklich zufriedenstellenden Ergebnis. In Deutschland fehlen einfach großgewachsene Abwehrspezialistinnen, die auf diesem Niveau bestehen können.

Im Test gegen die Schweiz harmonierten Kathrin Hendrich und Marina Hegering sehr gut, allerdings wurden die beiden auch nicht wirklich gefordert. Voss-Tecklenburgs Entscheidung für Hegering ist zudem nicht ohne Risiko: Die 32-Jährige, die von Bayern München zum VfL Wolfsburg wechselt, brachte es wegen einer langwierigen Verletzung in der vergangenen Saison nur auf fünf Bundesliga-Einsätze.

Ob sie fehlende Spielpraxis mit Erfahrung und ihrem starken Stellungsspiel kompensieren kann, wird sich zeigen.

Als Außenverteidigerinnen sollten Felicitas Rauch (links) und Giulia Gwinn (rechts) gesetzt sein. Beide sind enorm offensivfreudig und zuverlässige Flankengeberinnen. Nicole Anyomi, eigentlich Stürmerin, testete Voss-Tecklenburg bereits als Alternative auf der rechten Abwehrseite. Sara Doorsoun und Sophia Kleinherne sind derzeit nur zweite Wahl.

Das sagt Sportschau-Expertin Nia Künzer: "Kathi Hendrich hat in Wolfsburg eine super Saison gespielt und sich in der Innenverteidigung etabliert. Wenn Marina Hegering richtig fit ist, dann hat sie ein richtig gutes Niveau. Das gilt auch für Giulia Gwinn, die in München ebenfalls lange ausgefallen ist. Die Position der Linksverteidigerin war am längsten offen. Aber Felicitas Rauch ist eine gute Verteidigerin. Nun kommt es darauf an, wie die vier zusammen harmonieren - besonders gegen die großen Teams."

Mittelfeld - Wohlfühlbereich auch ohne Marozsan

Das Fehlen von Dzsenifer Marozsan (Kreuzbandriss) wurde als herber Verlust eingeordnet. Aber die Strategin von Olympique Lyon ist nicht selten bei großen Turnieren unter ihren Möglichkeiten geblieben - und im Mittelfeld kann die Bundestrainerin aus einem Überangebot an starken Spielerinnen schöpfen.

Die deutsche Fußballspielerin Sara Däbritz im Nationalmannschaftstrikot

Strategin im deutschen Spiel: Sara Däbritz.

Kein Vorbeikommen für die teaminterne Konkurrenz ist wohl an Lena Oberdorf auf der zentralen Defensivposition. Auch Sara Däbritz als Lenkerin des Spiels und Lina Magull als Passgeberin dürften gesetzt sein. Wenn alle gesund bleiben, werden Spielerinnen wie Linda Dallmann, Sydney Lohmann oder Lena Lattwein weiterhin nur von der Bank kommen, aber als Joker setzen sie fast immer Impulse.

Das sagt Sportschau-Expertin Nia Künzer: "Mit Lena Oberdorf, Sara Däbritz und Lina Magull, dahinter Linda Dallmann, Sydney Lohmann und Lena Lattwein - das kann sich wirklich sehen lassen. Dieses Sextett hat ein wirklich sehr gutes Niveau. Und ich bin optimistisch, dass das deutsche Mittelfeld bei der EM sein Leistungsvermögen abrufen wird."

Angriff - Popp als Schrecken der Gegner

Plötzlich wieder Stürmerin! Kapitänin Alexandra Popp soll nach den Plänen der Bundestrainerin die EM auf ihrer Lieblingsposition bestreiten. Zwar kann die Wolfsburgerin außer im Tor so ziemlich überall spielen, aber die lange Verletzungspause und eine Corona-Infektion kurz vor dem Turnier stecken der 31-Jährigen in den Knochen. Als Stoßstürmerin, so der Plan, soll sie sich weniger aufreiben müssen und die gegnerischen Abwehrreihen allein durch ihre körperliche Präsenz beeindrucken. Zunächst wahrscheinlich auch nur als Jokerin.

Auf der Position der Knipserin hat Popp (53 Tore in 114 Länderspielen) bei ihrer ersten EM-Endrunde überhaupt schließlich auch harte Konkurrenz. Die Torquote von Lea Schüller (25 Treffer in 39 Spielen) ist aktuell unübertroffen.

Gefüttert werden die Spitzen von den Flügelspielerinnen Svenja Huth und Klara Bühl. Bühl zeigte mit ihrem Dreierpack gegen die Schweiz, dass sie auch als Vollstreckerin brillieren kann. Die dribbelstarke Huth kann sich jederzeit auch ins Mittelfeld zurückfallen lassen, ebenso wie die junge Jule Brand.

Laura Freigang wird bei ihren ersten großen Turnieren auf ihre Chance warten müssen. Tabea Waßmuth, die in Wolfsburg mit 13 Toren in 21 Spielen eine herausragende Bundesliga-Saison spielte, wurde vor der EM von Wadenproblemen zurückgeworfen und muss sich ebenfalls zunächst hinten anstellen.

Das sagt Sportschau-Expertin Nia Künzer: "Svenja Huth ist für mich eine echte Maschine, die nicht nur Leistungsträgerin, sondern mittlerweile auch Führungsspielerin ist. Es kann nichts Besseres geben, als dass Klara Bühl gegen die Schweiz so abgeliefert hat. Dieses Momentum müssen wir nutzen. Und wie im Tor gibt es auch auf der Mittelstürmer-Position ein Luxus-Problem. Es gibt wirklich Schlimmeres, als sich zwischen Alexandra Popp und Lea Schüller zu entscheiden. Wenn Schüller im Flow ist, dann trifft sie mit links, rechts und mit dem Kopf."

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 06.07.2022 | 20:15 Uhr