Bayerns Thomas Müller
interview

Psychologe im Interview WM-Ratschlag - Siegen macht die Belastung erträglicher

Stand: 10.11.2022 11:21 Uhr

So wenig Vorbereitung, aber auch so wenig Regeneration waren noch nie: Am 13. November endet die erste Bundesligatranche, am 20. November steigt bereits das Eröffnungsspiel der Fußball-Weltmeisterschaft. Wie die Profis das verpacken sollen, fragte die Sportschau Moritz Anderten, den sportpsychologischen Experten der Deutschen Sporthochschule in Köln.

Sportschau: Zwischen Bundesliga-Break und WM-Start liegt diesmal nur eine einzige Woche Pause. Stars wie der angeschlagene Thomas Müller haben praktisch keine Zeit, Verletzungen richtig ausheilen zu lassen - ist das alles zu hart für die Profis?

Moritz Anderten: "Man kann auf jeden Fall sagen, dass die vielen Englischen Wochen, die es durch die anstehende WM jetzt gerade gibt, natürlich dazu führen, dass eine extrem hohe körperliche und damit einhergehend auch geistige Belastung vorliegt - und dadurch die Verletzungsanfälligkeit steigt."

Kann es umgekehrt auch Vorteile haben, wenn man jetzt direkt im Spiel-Rhythmus bleibt?

"Sowohl als auch. Es gibt Hinweise darauf, dass es dann vorteilhaft sein kann, wenn es für den Spieler persönlich oder seinen Verein sowieso gerade gut läuft. Wenn er also gerade im Flow ist, dass er dann die Belastung auch nicht so wahrnimmt beziehungsweise als solche empfindet. Umgekehrt gibt es dann, wenn es gerade nicht so gut läuft, durch die enge zeitliche Taktung auch keine Möglichkeit, aus dieser Negativspirale mal auszubrechen und dann nach zwei, drei Wochen neu zu starten. Bei den Nationalspielern läuft es ja sportlich meistens gut, aber da muss man dann auch in den erfolgreichen Phasen sehr darauf achten, dass auch der Kopf mal regenerieren kann."

Durch Pokal und Europapokal gab es auch zuletzt fast nur englische Wochen mit Spielen alle drei, vier Tage - wie beugt man da muskulären Verletzungen vor?

"Das ist ja in den Bundesligavereinen das A und O, dass da im gesamten Trainingsbereich mit Physiotherapeuten und Ärzten darauf geachtet wird, dass die Belastung so gesteuert wird, dass die muskuläre Unverserhtheit gewährleistet werden kann - trotz aller Trainings- und Spielhärte. Wichtig ist, dass man das alles auch präventiv angeht und nicht erst eingreift, wenn die Verletzung da ist. Joga ist da beispielsweise eine sehr gute Möglichkeit, um mit Entspannungsphasen Verletzungen vorzubeugen - das ist bei vielen Vereinen auf dem Vormarsch."

Gibt es Rezepte, wie man durch solch eine krasse Taktung nicht nur körperlich, sondern auch geistig gut durchkommt?

"Auch die mentale Vor- und Nachbereitung von all diesen englischen Wochen ist ganz wichtig. Sportpsychologen achten darauf, dass Entspannungseinheiten durchgeführt werden, um die Stressoren, die durch Siege oder Niederlagen, durch das viele Reisen oder den allgemeinen Wettkampfdruck entstehen, zu verarbeiten und von sich wegzuschieben. Es muss also genug Zeit und Raum da sein, das Erlebte zu reflektieren, um dann auch für den nächsten Wettkampf wieder weitgehend frisch zu sein."

Die vielen Spieler, die nicht zur WM fahren dürfen, haben mehr als zwei Monate Zeit bis zum nächsten Pflichtspiel - wie bringt man seinen Körper am besten durch so eine lange Phase, und wie baut man dann rechtzeitig wieder Spannung auf?

"Da haben die Vereine ja ihre Pläne, wie viel Zeit für Urlaub reserviert wird und was im Urlaub zu tun ist, um beispielsweise mit leichten Läufen nicht die ganze Leistungsfähigkeit zu verlieren. Wichtig ist aber vor allem, dass nach den Strapazen genügend echte Urlaubsphasen da sind, um diese ganzen Belastungen einmal ausklingen zu lassen. Dann muss man aber auch wieder rechtzeitig anfangen, sich körperlich wieder hochzufahren. Es muss also insgesamt ein Wechselspiel aus Belastung und Entspannung da sein, damit der Körper anschließend überhaupt wieder leistungsfähig ist."

Finden Sie es gut, wenn Trainer mit ihren Spielern über Belastung und Belastungssteuerung reden? Oder entsteht durch dieses Thema überhaupt erst der Stress für Kopf und Körper?

"Das Thema ist ja auf jeden Fall da, allein schon durch diese Taktung von Mittwoch, Samstag, Mittwoch und wo weiter. Die Frage ist dann, wie ich es als Trainer anspreche. Ob ich es problematisiere und sage, oh Gott, ist das viel, wir schaffen es alles nicht, diese ganze Belastung - dann kommt die Botschaft eben auch beim Spieler so an. Oder ob ich es lösungsorientiert angehe und ganz konkrete Hilfestellungen anbiete. Ob ich meinem Spieler Ideen aufzeige, wie Körper und Kopf mit den Belastungen umgehen können, um dann auch über einen langen Zeitraum leistungsfähig zu sein."

Man hört in der Bundesliga oft, dass man bei Niederlagen die Müdigkeit viel eher spürt als nach Siegen - gibt es dafür irgendeine wissenschaftliche Grundlage?

"Ja, es gibt durchaus wissenschaftliche Erkennisse dazu: Wenn wir gerade erfolgreich sind oder uns auch nur als erfolgreich wahrnehmen, haben wir eine andere Hormonausschüttung. Wenn ich glaube, dass ich sehr erfolgreich bin, stoße ich Glückshormone aus, und dann wird Beanspruchung gar nicht als Belastung wahrgenommen. Es können also objektiv die gleichen Belastungen vorhanden sein, aber je nachdem ob ich gewinne oder verliere, nehme ich subjektiv anders wahr. Erfolgreiche Menschen fühlen sich also weniger beansprucht, körperlich und geistig. Wenn ich im Lauf bin, kann ich auch besser erfolgreich weiterspielen - das ist hormonell erklärbar. In der Niederlage sind es dagegen stressauslösende Hormone, die die Belastung deutlich spürbarer machen."

In US-Sportarten wie Eishockey oder Basketball ist es völlig normal, dass alle zwei, drei Tage gespielt wird. Dazu sind es auch insgesamt oft deutlich mehr Spiele als hier im Fußball, und dort kommt auch noch deutlich mehr Reise-Stress dazu. Aber man hört dort kaum Gejammer darüber - sind wir Deutschen da vielleicht zu sensibel oder zu weich?

"Ach, dieser Diskussion kann ich mich gar nicht so richtig anschließen. Ich kenne auch amerikanische Sportler oder deutsche Sportler in Amerika, die über eine sehr hohe Belastung sprechen. Was man sagen kann ist, dass die Amerikaner zum Beispiel in der NBA deutlich bessere und professionellere Bedingungen für die Regeneration haben. Da haben viele Vereine eigene Flugzeuge mit Schlafmöglichkeiten für die Spieler, eine überragende und viel größer ausgestattete Physioabteilung für das körperliche und seelische Wohl. Letztlich ist es auch eine Frage der Kultur, wie sehr ich über die Beanspruchung sprechen möchte. Aber wenn ich mir jetzt beispielsweise die Bayern anschaue, die ja auch eine wahnsinnig hohe Belastung haben, da kann ich nicht feststellen, dass dort gejammert wird. Als Trainer und Spieler sollte man doch eher dahin tendieren, dass wir die ganzen Spiele und die internationalen Reisen auch wollen und als Geschenk betrachten. Es ist also eigentlich eine Frage der inneren Bejahung."