Australiens Samantha Kerr ist enttäuscht.

"Matildas" hoffen auf Bronze Hoffnungsträgerin Kerr reicht Australien gegen England nicht

Stand: 16.08.2023 18:27 Uhr

Sam Kerr hat Australien vom Einzug ins WM-Endspiel träumen lassen. Wenn auch nur kurz. Dem Superstar gelang im Halbfinale gegen England (1:3) einer der schönsten Treffer des Turniers, Kerr stellte aber fest: "Es ist ein schönes Tor, das nichts bedeutet."

Von Florian Neuhauss, Sydney

Die Bilder, die über die riesige Anzeigetafel im Olympiastadion von Sydney flimmern, spiegeln wider, welche Achterbahnfahrt der Gefühle Australiens Vorzeige-Fußballerin durchlebt: Sam Kerr schiebt Frust nach dem 0:1. Sam Kerr reckt nach dem Ausgleich die geballte Faust in den Nachthimmel. Nach dem erneuten Rückstand steht sie da, mit ausdrucksloser Miene und offenem Mund, tief durchatmend. Dann schlägt die Stürmerin die Hände über dem Kopf zusammen, als sie die Riesenchance zum Ausgleich vergibt. Und schließlich: Sam Kerr nach der Niederlage - mit gesenktem Kopf, die Hände auf die Knie gestützt.

Nach dem Halbfinale zwischen den Gastgeberinnen und England, das der Europameister nicht unverdient mit 3:1 gewann, litt der Großteil der über 75.000 Zuschauenden mit der großen Hoffnungsträgerin, die das Stadion mit ihrem Treffer zum 1:1 schier zur Explosion brachte. Als auf der Anzeigetafel das Tor in der Wiederholung gezeigt wurde, jubelten die Fans gleich noch mal.

"Das war ein unglaublicher Treffer", sagte Englands Trainerin Sarina Wiegman. "Es war so unfassbar laut im Stadion, als sie getroffen hat. Danach hätte das Spiel kippen können", beschrieb ein englischer Fan. Aber das Duell kippte nicht. Und so bilanzierte Kerr: "Das Spiel war enger, als es das 3:1 aussagt. Ich habe ein schönes Tor geschossen, aber leider bedeutet es jetzt nichts mehr."

TV-Rekord für "Matildas" bei bitterer Niederlage

Das stimmt so natürlich nicht. Die "Matildas" haben es geschafft, Australien für Fußball zu begeistern. Ein Land, in dem es eigentlich neben Rugby, Cricket sowie Australian Football - und einmal im Jahr Tennis - eigentlich keinen Platz für eine weitere Sportart gibt. Für Frauenfußball schon mal gar nicht. Und dann stellte die TV-Übertragung bei Channel 7 mit 11,15 Millionen Zuschauenden (42 Prozent der australischen Bevölkerung) einen Allzeitrekord sein Beginn der Datenerhebung auf. Da konnte selbst Cathy Freemans Lauf zu Olympia-Gold 2000 in Sydney mit gut acht Millionen Menschen an den Fernsehern nicht mithalten.

"Heute Abend ist es unglücklich für uns gelaufen, aber ich denke, wir können stolz sein", erklärte Kerrs Sturmpartnerin Mary Fowler. Cortnee Vine, die im Viertelfinale gegen Frankreich noch den entscheidenden Elfmeter verwandelt hatte, sagte: "Wir haben unser Herz und unsere Seele auf diesem Rasen gelassen. Und die Zuschauer sind einfach toll gewesen. Hoffentlich haben wir jetzt ein paar neue Fans in Australien gewonnen."

Daran dürfte eigentlich kein Zweifel bestehen - zu groß war der Hype, den die "Matildas" ausgelöst haben. Die Fans haben sich berauschen lassen von ihren Spielerinnen. "Die Atmosphäre ist der Grund, warum man zu diesen Spielen geht", erklärte Cassey aus Sydney, während einige kleine Fans auch auf dem Stadionvorplatz noch von Heulkrämpfen geschüttelt wurden. Die Älteren sahen hingegen mehr als die Niederlage. "Wir sind so stolz auf unsere 'Matildas' und das, was sie geschafft haben. Nicht nur für den Fußball, sondern für den Frauensport insgesamt", sagte Erica, die mit ihrer fußball-begeisterten Tochter zum Spiel gekommen war.

Entertainer Gustavsson: "Game over"

Eine besondere Gratwanderung hatte Coach Tony Gustavsson zu absolvieren. Der Entertainer einer ganzen Nation hatte schon mit dem Ende der Nationalhymne das Publikum animiert, einen ohrenbetäubenden Lärm zu machen. Nach der Niederlage gab er sich dann schnell als nüchterner Analyst: "Wir hatten in der 83., 84. und 85. Minute die Chancen auszugleichen. Und in der 86. Minute kam das 1:3 und das 'Game over'."

Doch Mannschaft und Fans schätzen den Schweden eben nicht zuletzt wegen seiner Emotionen. Er sei nach dieser Niederlage sehr traurig: "Aber ich hoffe, wir haben etwas anderes gewonnen - die Herzen und die Leidenschaft für diesen Sport." Das verlorene Halbfinale dürfte aber nicht das Ende von etwas bedeuten: "Es muss der Anfang sein."

Holen die "Matildas" nach dem Schock nun Bronze?

Ganz vorbei ist die WM für die Gastgeberinnen ja auch noch nicht. Bereits am Samstag (10 Uhr, live im Ersten und bei sportschau.de) geht es gegen Schweden, das im anderen Halbfinale gegen Spanien unterlegen war, um den dritten Platz. Auch wenn jetzt alle "emotional" seien, habe das Team dafür eigentlich keine Zeit, so der Coach. "Das ist eine sehr plötzliche Kehrtwende. Wir müssen ein Bronze-Medaillen-Spiel absolvieren. Dafür müssen wir bereit sein", forderte Gustavsson vor dem Match gegen seine Landsleute und traf damit offenbar einmal mehr den richtigen Ton bei seinen Spielerinnen.

Das eine sehr plötzliche Kehrtwende. Wir müssen ein Bronze-Medaillen-Spiel absolvieren. Dafür müssen wir bereit sein.
Australiens Nationaltrainer Tony Gustavsson

"Wir müssen unseren Kopf oben behalten. Wir spielen hier noch um den dritten Platz", sagte Vine, und Fowler fügte hinzu: "Wir müssen so schnell wie möglich über diese Niederlage hinwegkommen. Dafür sollten wir das Halbfinale vergessen."

Kapitänin Kerr hofft, dass die Fans ihr Team noch einmal nach vorne peitschen werden. Und die Bronze-Medaille könnte dabei helfen, dass ihr Wunsch in Erfüllung geht: "Dieses Turnier war unglaublich. Das Land hat uns toll unterstützt. Hoffentlich bleibt das lange in Erinnerung."

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau FIFA Frauen WM | 19.08.2023 | 09:40 Uhr