Vincent Keymer (r) im Spiel gegen Magnus Carlsen bei der Schnellschach-WM.

Vize-Weltmeister im Schnellschach Vincent Keymer und die Parallelen zu Magnus Carlsen

Stand: 11.01.2023 07:09 Uhr

Mit seinem zweiten Platz bei der Schnellschach-Weltmeisterschaft ist Vincent Keymer endgültig in der erweiterten Schach-Weltspitze angekommen. Nicht nur sein Trainer vergleicht ihn mit Magnus Carlsen.

Ob er nun endgültig in der Weltspitze angekommen sei? Vincent Keymer, der sonst immer wie aus der Pistole geschossen antwortet, überlegt ein paar Sekunden. "Nicht unbedingt. Das war jetzt ein Turnier, wo es gut lief", antwortet der inzwischen 18-Jährige dann.

Auch kurz nach dem größten Erfolg seiner Karriere, Silber bei der Schnellschach-WM in Kasachstan Ende Dezember, bleibt Keymer bescheiden und zurückhaltend. Er gilt seit Jahren als größtes deutsches Schachtalent seit Jahrzehnten, wurde mit 14 Jahren der bisher jüngste deutsche Großmeister überhaupt. Nun, vier Jahre später, lässt sich festhalten: Der Rheinhesse hat dem Druck als Jahrhunderttalent nicht nur standgehalten, er hat die Erwartungen vieler sogar noch übertroffen.

Siege gegen Caruana und "Nepo": "Da fing mein Lauf an"

2021 wurde er bei der Europameisterschaft schon Zweiter, ein erstes Ausrufezeichen. Danach folgten gute Leistungen beim Grand Prix oder der Onlineturnierserie von Superstar Magnus Carlsen. Aber sein Meisterstück, das war dieser zweite Platz zuletzt bei der Schnellschach-WM, bei der Keymer mehrere Großmeister schlug und nur knapp an einem Tiebreak mit Carlsen vorbeischrammte.

"Der erste Tag lief in Ordnung, aber am zweiten Tag hatte ich diesen riesigen Kampf gegen Caruana und dann fing mein Lauf an", blickt Keymer zurück. Er schlug den Amerikaner Fabiano Caruana und den Russen Ian Nepomniachtchi, die letzten beiden Herausforderer Carlsens bei der klassischen Schach-WM. Alle Partien mit den weißen Figuren gewann Keymer - ein Beleg für sein gutes Stellungsspiel und seine Sicherheit in den Eröffnungen.

Vincent Kreymer über seine erste Rapid- and Blitz-WM

Sportschau, 09.01.2023 15:01 Uhr

Als Nummer 54 der Setzliste gestartet, war Keymer vor der letzten Runde punktgleich mit Carlsen. Dieser erwischte ein einfaches Los, stand früh auf Gewinn. Keymer hingegen musste gegen den früheren Blitz-Weltmeister ran, den Franzosen Maxime Vachier-Lagrave. "Ein Remis war erstmal das Ziel, um eine Medaille zu holen. Ich wollte wirklich nicht verlieren", blickt Keymer zurück. Das gelang ihm, lange war die taktisch hochklassige Partie ausgeglichen. Am Ende hatte Keymer dann sogar einen Vorteil, hätte beinahe einen seiner Bauern zur Dame umwandeln können - das wäre der Sieg und das Stechen gegen Carlsen um den Titel gewesen. "Ich hatte das Gefühl, dass die Partei gewonnen ist, konnte es in der Kürze der Zeit aber nicht mehr berechnen", sagt Keymer. Sein französischer Gegner konnte den auf der F-Linie weit vorgerückten Bauern doch noch aufhalten und somit ein Remis sichern - und machte so den Norweger Carlsen, der die Partie schon nervös als Zuschauer verfolgt hatte, zum Weltmeister.

45.000 Preisgeld für Keymer - und viel Lob

Die kurze Enttäuschung über den verpassten Tiebreak wich schnell der Freude über den größten Erfolg der Karriere - und 45.000 Dollar Preisgeld, ebenfalls Rekord für Keymer. "Die Entwicklung von Vincent kam für mich persönlich nicht überraschend, weil er sich seit Jahren stetig verbessert hat", sagt der Präsident des Deutschen Schachbundes, Ullrich Krause. "Ich hätte allerdings nicht erwartet, dass er bei der Schnellschach-WM den zweiten Platz belegt. Im Schnellschach kommt es viel stärker auf Intuition und Schnelligkeit an und Vincent verfügt anscheinend über beides auf einem Weltklasse-Niveau."

Keymers Spiel ist sehr strategisch, er macht wenige Fehler - trotzdem ist er in den vergangenen Jahren, auch durch viele Online-Partien aggressiver geworden, geht auch mal ins Risiko. Will man den Deutschen mit einem anderen Schachspieler vergleichen, dann fällt vielen Experten nur einer ein: Magnus Carlsen, der norwegische (Noch-)Weltmeister und die Überfigur im Schach.

Auch Keymer selbst sieht Parallelen zu Magnus Carlsen

"Bei Magnus Carlsen bezeichnet man es ja immer als Stärke, dass er in Stellungen, die leicht besser sind, noch den Vorteil herausholt. Das ist etwas, was man auch bei mir findet", sagt auch Keymer selbst. Sein Coach, der frühere Weltklassespieler Peter Leko, vermutete als Kommentator zuletzt, dass sich Keymer gegen Carlsen in Partien bisher noch so schwer tut, weil sich beide so ähnlich seien. "Nur aktuell ist Magnus eben noch klar besser", so Leko.

"Carlsen ist ein unheimlich abgerundeter Spieler"

Sportschau, 09.01.2023 15:01 Uhr

Noch ist die Lücke zum norwegischen Megastar riesig, dieser zeigte Keymer zuletzt mehrfach die Grenzen auf. "Aber Keymer wird die Lücke schließen und absolute Weltklasse sein", ist sich der deutsche Schachstreamer Georgios Souleidis alias "The Big Greek" sicher. "Keymer und Carlsen sind beide sehr universelle Spieler, sehr vielseitig. Und sie drehen nicht durch am Brett, sondern machen das, was die Stellung erfordert".

Sorgen beim Cheating: "Das geht um die Integrität des Sports"

Zuletzt hatten den Schachsport monatelang die Betrugsvorwürfe von Magnus Carlsen gegenüber dem Amerikaner Hans Niemann beschäftigt. Der Weltverband FIDE ermittelt in der Angelegenheit noch immer, die größte Schachseite "chess.com" gab einen 72-seitigen Bericht heraus. Ein interessantes Randdetail des Berichtes: Die Seite untersuchte die Entwicklung der Spielstärke verschiedener Spieler, um Niemanns vermeintlich außergewöhnlich schnelle Entwicklung zu beschreiben. Von allen untersuchten Spielern hatte Vincent Keymer hinter dem verdächtigten Niemann und dem als größten Schachgenie aller Zeiten bezeichneten Bobby Fischer den größten Ratingzuwachs innerhalb weniger Jahre - noch vor Carlsen oder anderen jungen Toptalenten wie Gukesh oder Firouzja.

Keymer gibt mit diesen Statistiken oder guten Spielen nie an, das macht ihn sympathisch und unterscheidet ihn etwa von einem Großmaul wie Niemann. Über den möchte der junge Saulheimer in Interviews nicht sprechen, zum Thema Cheating hat er sich zuletzt aber oft geäußert. "Die Technik entwickelt sich immer weiter. Da gehe ich einfach davon aus, dass es noch Sachen im Cheating gibt, denen man sich noch gar nicht bewusst ist", fürchtet Keymer. "Das betrifft die Integrität. Wenn sich das ausweitet, betrifft es den ganzen Sport."

Vincent Keymer - "Integrität des Sports bedroht"

Sportschau, 09.01.2023 15:01 Uhr

Ursprünglich war im Frühjahr ein Zweikampf Keymers gegen eben jenen Niemann geplant, unterstützt und vermarktet vom Deutschen Schachbund. Manche im Schachbund hätten sich die Aufmerksamkeit gewünscht, hätten es gerne gesehen, dass Keymer als Saubermann die Chance nutzt, um das Spiel fair zu gewinnen.

Keymer wollte nicht gegen Niemann spielen

Aber Keymer sagte nach den Betrugsvorwürfen gegen Niemann ab. Sein Management führt noch immer sein Vater, ein Berufsmusiker - wäre er nicht Schachprofi geworden, hätte Vincent Keymer wohl auch Pianist werden können. Die Grenke Bank unterstützt den 18-jährigen seit Jahren, ansonsten läuft die Sponsorensuche schleppend. "Das ist der beste deutsche Spieler aller Zeiten und da findet sich kein großes Unternehmen, das ihn sponsort. Das finde ich unglaublich", sagt Streamer Souleidis.

Die nächsten drei Jahre gibt es nun aber vom Deutschen Schachbund eine neue Spitzensportförderung. Keymer erhält einen mittleren fünfstelligen Betrag pro Jahr und kann dadurch Trainer Leko oder teure Reisen wie zur WM in Kasachstan finanzieren.

Abiturschnitt von 1,7 - jetzt wartet das Tata Steel Turnier in Holland

Eine Sorge weniger - und auch das Abitur hat Keymer ja seit Anfang 2022 in der Tasche. Zwischen Training und Turnieren schaffte er es trotzdem noch auf einen 1,7er-Notenschnitt. Seitdem ist er Profi. "Die Schule war zwar sehr entgegenkommend, aber jetzt kann ich mich nach Turnieren Zuhause besser ausruhen und auftanken", so Keymer. "So können die Gedanken beim Schach bleiben. Die Schule hat schon immer Gedanken eingenommen und ich habe dann Dinge vom Schach vergessen. Jetzt im Modus drin bleiben zu können, das hilft schon."

Vincent Keymer zwischen Abitur und Weltmeisterschaft

Sportschau, 09.01.2023 15:01 Uhr

Geht die Reise des Vincent Keymer so weiter wie in den vergangenen zwei Jahren, dann dürfte sein Ziel zeitnah das Kandidatenturnier und damit eine mögliche WM-Qualifikation sein. Erst einmal spielt er ab diesem Samstag (14. Januar) beim hochkarätig besetzten Tata Steel Turnier in Holland mit, unter anderem gegen Angstgegner Carlsen und WM-Aspirant Ding Liren. Mitte Februar geht es dann zum ebenfalls hochklassigen Chess Masters in Düsseldorf. Zwei Weltklasseturniere innerhalb von zwei Monaten als Gradmesser. Ziele? "Erstmal halbwegs behaupten bei diesen Teilnehmern" - ein klassischer Keymer.