Schach | WM Am Ende ein Klassenunterschied: Carlsen bleibt Weltmeister

Stand: 11.12.2021 12:26 Uhr

Die Schach-WM endet eindeutig. Magnus Carlsen bleibt Weltmeister und deklassiert Herausforderer Jan Nepomniachtchi. Der Russe sucht nach Gründen für seinen Einbruch – Carlsens Blick richtet sich nun schon auf das mögliche Duell gegen den Franzosen Firouzja.

Wer eine Schachpartie live verfolgt, der klebt mit seinen Augen immer auch am Schach-Computer. Wie gut war der letzte Zug, wer ist nun im Vorteil, was sagt der Super-Rechner? Bei fast allen Livestreams ist ein Balken eingeblendet, der zwischen Weiß und Schwarz hin und her pendelt.

0.0 heißt: total ausgeglichen. Hat eine Seite einen Vorteil von +1, bedeutet das: Ein Spieler hat einen deutlichen Vorteil, aber das kann der andere vielleicht noch ausgleichen.

Plötzlich springt der Balken auf über 8

Am Freitag (10.12.2021), in der elften und entscheidenden Partie dieser Schach-WM, zog Herausforderer Jan Nepomniachtchi im 23. Zug seinen G-Bauern einen Schritt nach vorne. Nur ein Schritt, nur ein Zug. Aber der Balken sprang sofort von um die 0 auf über 8. Aus einer ausgeglichenen Stellung wurde mit einem Zug eine haushoch gewonnene Situation für Weltmeister Magnus Carlsen. Kurz danach war die Partie vorbei und damit auch diese Weltmeisterschaft, die Carlsen mit 7,5 zu 3,5 Punkten so deutlich gewann wie keine WM zuvor.

Einen "Todeswunsch“ nannten das manche Kommentatoren, der Weltranglistensiebte Anish Giri sagte: "Er möchte dieses Spiel verlieren, er möchte nicht mehr spielen.“

Am Ende musste Carlsen nur noch auf Fehler warten

Was ihn zu der Entscheidung bewogen hatte, sagte der Russe "Nepo“ bei der abschließenden Pressekonferenz nicht. Vielleicht spekulierte er auch darauf, dass Gegner Carlsen mal nicht die besten Züge finden würde – denn dann hätte der Balken nach dem riskanten Bauernzug auch ganz schnell wieder in die Richtung des Russen kippen können.

"Ich denke, zu einem bestimmten Zeitpunkt kann es die beste Strategie sein, einfach nur abzuwarten. Einfach nur seriös und solide zu spielen“, sagte Weltmeister Carlsen nach der Partie. Bei seiner vierten Titelverteidigung wurde der Norweger nur in der ersten Turnierhälfte gefordert. Mit seinem Sieg in der sechsten Partie, dem längsten Spiel der WM-Geschichte, kippte das Match. Danach musste Carlsen nur noch abwarten, wie sich sein russischer Herausforderer selbst zerstörte.

Auch "Nepo" rätselt über seine krassen Fehler

"Das hatte wenig mit Schach zu tun, eher mit Psychologie“, kommentierte Gegner "Nepo“ seine teils absurden Patzer in der achten und neunten Partie. "Die Anspannung war höher als ich dachte, aber das erklärt trotzdem nicht die Fehler.“ Diese Züge hätte er sonst nicht mal in einer Blitzpartie, also einem Spiel mit nur wenigen Minuten Bedenkzeit, in Erwägung gezogen.

Mit dem Druck des größten Schachturniers, diesem ultimativen Showdown zweier Spieler über mehrere Wochen hinweg, konnte "Nepo“ am Ende wohl nicht mehr umgehen. Mit seiner offenen und selbstkritischen Art sammelte der Russe zwar viele Sympathien. Trotzdem endete diese WM sportlich enttäuschend. Schließlich hatte der Russe vor der WM als einziger Topspieler eine positive Bilanz gegen Carlsen (die ist nun futsch) und wurde als ernstzunehmender Herausforderer gehandelt.

Keine Spannung in der zweiten Turnierhälfte

"Ich habe weit unter meinen Möglichkeiten gespielt“, sagte "Nepo". "Er konnte nicht sein bestes Schach zeigen, was wirklich schade ist für das Match und die Spannung“, pflichtete ihm Weltmeister Carlsen bei. Vor der WM hatte Carlsen zwar das große Talent des Russen gelobt, aber vor dessen Nervenschwäche gewarnt. Der Norweger dürfte sich nun bestätigt fühlen.

Nach vier Siegen innerhalb einer Woche endete die Schach-WM deshalb so eindeutig wie seit fast 30 Jahren nicht mehr. Magnus Carlsen wurde bei seiner vierten Titelverteidigung nur in den ersten Partien gefordert.

Das Vermächtnis der WM: Marathon-Match sechs

Was bleiben wird von dieser Schach-WM, ist mit dem sechsten Spiel eine für die Geschichtsbücher. 136 Züge, fast acht Stunden Spieldauer: Die längste Partie der WM-Historie war ein epischer Kampf. "Dieses Spiel war der Grundstein für alles“, sagte Carlsen gestern nach seiner Titelverteidigung. "Darauf bin ich sehr stolz, das nehme ich mit von dieser WM.“

Auch Gegner "Nepo“ wird wohl noch oft an die sechste Partie zurückdenken. Für ihn startete damit die Kaskade des Unglücks und ein in der WM-Historie einzigartiger Einbruch. Er möchte sich nun eine kleine Pause nehmen: "Ich sollte wohl herausfinden, warum das passiert ist und mich verbessern."

Ende 2022 wird der nächste Herausforderer ermittelt

Ob er sich von diesem Fiasko erholen kann, wird sich spätestens beim Kandidatenturnier in der zweiten Jahreshälfte 2022 zeigen. Dann wird der nächste Herausforderer von Magnus Carlsen ausgespielt, der sich nun anschickt, den Rekord von sieben Weltmeisterschaften zu knacken.

"Nepo“ ist als WM-Verlierer automatisch für das Kandidatenturnier qualifiziert. Weitere Startplätze werden im Frühjahr vergeben – auch das deutsche Supertalent Vincent Keymer könnte es noch schaffen. Keymer ist gerade 17 Jahre alt geworden. Der Franzose Alireza Firouzja, nur ein Jahr älter als Keymer, hat seinen Startplatz schon sicher.

Viele hoffen auf Firouzja - der beeindruckt auch Carlsen

Firouzja ist inzwischen die Nummer zwei der Weltrangliste, hat einen furiosen Aufstieg hinter sich. Viele erinnert er an den jungen Magnus Carlsen. Und so träumt die Schachwelt nun schon vom "Duell der Generationen“, wenn die nächste WM voraussichtlich Anfang 2023 ausgetragen wird. Auch Weltmeister Carlsen blickt voraus: "Er war die letzten Monate sehr beeindruckend. Ich denke, nichts hat mich mehr motiviert als seine Performance.“