Schach-WM Schach-WM: Spektakel, schwache Nerven und Diskussionen

Stand: 06.12.2021 10:00 Uhr

Die Schach-WM zwischen Magnus Carlsen und Jan Nepomniachtchi bietet bislang alles: epische Partien, überraschende Nervenschwäche und die ewigen Diskussionen über das Format.

Es war spät am Abend, als am vergangenen Freitag (03.12.2021) in Dubai Schachgeschichte geschrieben wurde. Weltmeister Magnus Carlsen und sein Herausforderer Jan Nepomniachtchi kämpften fast acht Stunden um den Sieg – am Ende siegte Carlsen nach 136 Zügen in der längsten Schachpartie der WM-Geschichte.

Dramatik pur im längsten Spiel der WM-Geschichte

In den ersten fünf Partien hatte es jeweils Unentschieden gegeben, am Freitag setzten beide Spieler voll auf Sieg. Carlsen geriet anfangs in große Zeitnot, Gegner "Nepo" zunehmend auch – seinen letzten Zug vor dem Zeitbonus nach 40 Zügen machte er fünf Sekunden, bevor die Uhr abgelaufen wäre.

"Fast acht Stunden höchste Konzentration in einem Wettbewerb auf höchstem Niveau“, schrieb Ex-Weltmeister Garri Kasparow auf Twitter. "Erinnert euch daran, wenn ihr hört, dass Schach kein Sport sei." Die Partie am Freitag: ein Spektakel und schon jetzt WM-Geschichte.

"Nepo" patzt: Das Marathonmatch hat Spuren hinterlassen

Zwei Tage später zeigte sich, welche Spuren diese Marathonpartie hinterlassen hat – vor allem beim russischen Herausforderer. Am Samstag trennten sich beide Spieler nach einer Art Waffenstillstand nach wenigen Stunden unentschieden.

Am Sonntag (05.12.2021) schenkte der Russe in einer lange ausgeglichenen achten Partie leichtfertig einen Bauern her. "Nepo" hatte übersehen, dass Carlsen mit einem leichten Damenzug Schach geben und im Gegenzug den Bauern einsammeln konnte.

Bei einer Schach-WM ein höchst seltener Patzer. "Ich möchte mich entschuldigen für meine Partie heute – ich hatte nicht das Niveau eines Großmeisters", sagte Nepomniachtchi.

Sein Gegner gab ihm gleich noch eine verbale Ohrfeige mit. "Jan war nicht im Topzustand heute. Es ist nicht das erste Mal, dass sein Level nach einer ersten Niederlage abfällt", sagte Carlsen, Weltmeister im Schach seit 2013.

Das Nervenkostüm des Russen gilt als schwach

Viel war im Vorfeld der WM über "Nepos" vermeintlich schwache Nerven geschrieben worden. Nepomniachtchi ist mit großem Talent beschenkt, doch den Sprung nach ganz oben hatte er lange nicht geschafft. Immer wieder war er bei Turnieren eingebrochen.

Bei der WM spielte er in den ersten fünf Spielen zunächst stark, hatte in der zweiten und fünften Partie gute Chancen auf einen Sieg. Nun wirkt der Russe müde, abgekämpft, hadert am Brett und beginnt, Fehler zu machen.

Souleidis: Carlsen ist flexibler, geht mehr Risiko

Theoretisch bleiben dem Russen noch sechs Gelegenheiten, um den 3:5-Rückstand zu drehen. Aber nur theoretisch. In der Praxis gibt es bei Schach-Weltmeisterschaften nur selten Entscheidungen, die meisten Partien gehen unentschieden aus. 2018 trennten sich Weltmeister Magnus Carlsen und Herausforderer Fabiano Caruana zwölf Mal remis, ehe ein Tiebreak die Entscheidung bringen musste.

"Nepo ist physisch und mental einfach nicht auf dem Niveau von Carlsen. Carlsen hat sich am Brett total unter Kontrolle, spielt nicht zu schnell und zu impulsiv", sagt Georgios Souleidis, der als Schach-Streamer "The Big Greek" bei YouTube mehr als 100.000 Follower hat und täglich live von der WM berichtet.

Für ihn der wesentliche Unterschied: die Flexibilität. Während "Nepo" bisher immer – erfolglos – dieselben Eröffnungszüge spielte, probiert Carlsen mehr aus und geht mehr ins Risiko.

Langweilig? Kaum Fehler in den ersten Partien

Nach dem Ruhetag am Montag (06.12.2021) muss nun auch der Russe mehr riskieren, um doch noch einmal zurückzukommen. Das verspricht höhere Spannung - für Experten wie für Neulinge. Denn bislang gab es da eine Kluft.

Die dritte und vierte Partie waren nach Schachcomputern die fehlerfreiesten und am genauesten gespielten Schachmatches aller Zeiten. Schachexperten und Topspieler schnalzen mit der Zunge bei so viel Präzision.

Schach-Neulinge wollen mehr Entscheidungen

Nicht so die vielen Neulinge, die während des Corona-Booms hauptsächlich online zum Schach gefunden haben. "Für die ist das schwer zu ertragen, ihnen fehlt auch die Geduld", sagt Schach-Streamer "The Big Greek". "Sie machen jedes Spiel sehr vom Ergebnis abhängig, wollen Entscheidungen."

Online haben noch nie so viele Menschen bei einer Schach-WM eingeschaltet wie in diesem Jahr – bis zu 400.000 Zuschauer gleichzeitig. Über 100 Anbieter übertragen die WM live. Marktführer ist die Plattform "chess24", die zum Firmenimperium der "Play Magnus Group" des Weltmeisters Carlsen gehört.

Diskussion neu entfacht: Wie den WM-Modus verändern?

Die vielen Schach-Neulinge im Netz, die schnelle und spektakuläre Partien wollen, haben eine Uraltdiskussion im Schach neu entfacht: Soll der Modus der Schach-WM verändert werden? Wie schafft man es, dass es weniger Unentschieden gibt?

Der Welt-Schachverband FIDE hat bei dieser WM schon weniger Ruhetage eingeführt, außerdem die Gutschriften pro Zug gestrichen. Vielen reicht das noch nicht. Manche fordern ein Knockout-Turnier um die Schachkrone.

"Ich denke, die FIDE wird die Bedenkzeit weiter verkürzen bei den nächsten Weltmeisterschaften", glaubt Souleidis. "Dann gibt es automatisch mehr Fehler und Entscheidungen."

Carlsen fordert schon lange Veränderungen

Weltmeister Magnus Carlsen hat sich schon oft kritisch zum WM-Modus geäußert. Carlsen will schnellere Spiele und mehr Risiko – so wie er es bei seiner selbst organisierten Online-Turnierserie vorgemacht hat.

Er wird die Diskussion nach der WM weiter anheizen. Bei den Pressekonferenzen nach den Partien wird Carlsen ständig auf das Thema angesprochen. "Es gibt ein Sprichwort", sagte Carlsen vor wenigen Tagen. "Wenn du nichts Nettes zu einem Thema zu sagen hast, sag lieber gar nichts."