Thibaut Pinot umgeben von Fans auf den letzten Kilometern der 20. Etappe
Tourreporter

20. Etappe der Tour de France Große und kleine Gefühle auf Le Markstein

Stand: 22.07.2023 21:49 Uhr

Die Tour de France ist fast beendet, am Sonntag geht es nach Paris. Doch schon nach der 20. Etappe auf Le Markstein werden erste Bilanzen gezogen. Vor allem der Franzose Thibaut Pinot erlebt große Emotionen

Von Michael Ostermann, Le Markstein

Auf dem Höhenzug rund um Le Markstein machte sich ein Gefühl der Leichtigkeit breit. Ja, die Tour de France 2023, ist zwar noch nicht im Ziel. Vor allem die Sprinter müssen sich für die letzte Etappe in Paris am Sonntag noch einmal sammeln. Aber für die meisten der 150 Fahrer, die es bis in die Vogesen bis zum Ende der 20. Etappe geschafft hatten, war der Punkt gekommen, sich von der Last der drei intensiven Wochen zu befreien und ein erstes Fazit zu ziehen.

Wer hat wen gebrochen?

Das galt natürlich in erster Linie für Jonas Vingegaard, der zum zweiten Mal in Folge das Gelbe Trikot in die französische Hauptstadt tragen wird. "Ich bin super happy", sagte der Däne, der diese Tour in Paris mit einem Vorsprung von fast siebeneinhalb Minuten Vorsprung auf Tadej Pogacar gewinnen wird.

Man muss bis ins Jahr 2014 zurückgehen, um einen ähnlichen Abstand zwischen dem Ersten und dem Zweiten in der Gesamtklassement zu finden. Damals gewann der Italiener Vincenzo Nibali mit 7'37 Minuten Vorsprung vor dem Franzosen Jean-Christophe Peraud.

"Wir hatten einen Plan, um Tadej zu brechen", sagte Vingegaards Sportlicher Leiter im Team Jumbo-Visma, Grischa Niermann. Und dieser Plan sei aufgegangen. Das sah Pogacar naturgemäß anders. Er habe sich nur selbst gebrochen, weil es ihm schlecht gegangen sei in der dritten Woche, erklärte der Slowene in Le Markstein. Auf eine schwere Niederlage im Zeitfahren der 16. Etappe folgte ein kapitaler Einbruch einen Tag später.

Sportschau Tourfunk, 22.07.2023 19:06 Uhr

Pogacar fühlt sich wieder wie Pogacar

Danach hatte Pogacar die Parole ausgegeben: Ein Etappensieg für das Team und die Absicherung der beiden Podiumsplätze von ihm und seinem Teamkollegen Adam Yates als Gesamtdritten. Alle drei Ziele verwirklichte das UAE-Team auf dieser letzten Bergetappe in den Vogesen. Pogacar selbst gewann die Etappe im Sprint gegen den Österreicher Felix Gall, die Entdeckung dieser Tour, und Vingegaard.

"Ich habe mich heute zum ersten Mal wieder wie ich selbst gefühlt", sagte Pogacar später. Auch die Farbe war zurück in seinem zuletzt aschfahlen Gesicht, genau wie das lausbübische Lächeln, das ihm eigen ist. Dass Pogacar und auch Vingegaard diesen letzten Tag der Tour auf ihrem Terrain nicht herschenken würden, war schnell klar gewesen. So richtig von der Leine ließen ihre Mannschaften die Ausreißer des Tages nicht.

Pinot ist überwältigt

Sehr zum Leidwesen vor allem von Thibaut Pinot. Der Franzose hatte 30 Kilometer vor dem Ziel versucht, als Solist davonzukommen. Vom Straßenrand flogen ihm dafür die Herzen der Fans zu, die in Massen dort standen, um auch, und vor allem, ihn zu feiern. Pinot kommt aus den Vogesen und diese Straßen sind seit vielen Jahren seine Trainingsgefilde.

Pinot mit letztem Auftritt in der Heimat

Sportschau, 22.07.2023 13:50 Uhr

Und all die Menschen entlang der Strecke wussten ja, das war der letzte große Auftritt ihres Landsmanns bei der Tour de France. Zum Saisonende wird Pinot seine Karriere beenden. "Es war wunderschön, unglaublich, verrückt. Das wird vielleicht die schönste Etappe meines Lebens bleiben", sagte Pinot. "Es war ein Kribbeln, ein unglaubliches Adrenalin, unbeschreiblich. Es war vielleicht das letzte Mal, dass ich so etwas gefühlt habe." Dann kam sein Teamchef Marc Madiot und umarmte seinen Fahrer sehr lange, bis Pinot schließlich nur noch stammeln konnte: "Es ist schwer, sehr schwer. Ich habe auch meinen Vater im Ziel gesehen..." Der Rest ging in Tränen unter.

Teamchef Denk hat gemischte Gefühle

Während Pinot das große Gefühlskino bot, ging es anderswo deutlich nüchterner zu. Etwa beim deutschen World-Tour-Team Bora-hansgrohe. Ein Etappensieg durch Jai Hindley, nach dem der Australier sogar einen Tag im Gelben Trikot verbrachte. Danach hatte Teamchef Ralph Denk erklärt, die Tour könne nicht mehr schlecht werden. Doch auf Le Markstein hatte Denk dann doch eher gemischte Gefühle.

Seit vielen Jahren möchte der Oberbayer einen seiner Fahrer auf dem Podium in Paris stehen sehen, in der Abendsonnde mit dem Arc de Triomphe im Hintergrund. Hindley hätte dieser Fahrer sein sollen, doch am Ende belegt er nun Rang sieben mit fast vier Minuten Rückstand auf den Gesamtdritten Adam Yates. "Das tut mir schon weh", sagte Denk, "weil wir 2019 schon Vierter waren und danach zwei Mal Fünfter und das ist keine Verbesserung. Aber wir streben nach Verbesserung."

Hindley war allerdings lange auf Podiumskurs gewesen, bis die Folgen eines kapitalen Sturzes in den Alpen die Energie zogen. Doch Pech wollte Denk nicht als Faktor gelten lassen: "Ich hasse das Wort Pech, ich hasse das Wort Glück. Schlussendlich, wenn man die Geschichtsbücher aufklappt, stehen wir nicht drin." Dort stehen nun andere, Vingegaard, Pogacar und Adam Yates als die ersten drei. Und all die Etappensieger, die sich mit ihren Erfolgen in der Historie der Tour de France festgeschrieben haben.

Genau so wie all jene, die für die kleinen und großen Dramen in den vergangenen drei Wochen gesorgt haben. Manche werden das alles nun in Paris genießen können, andere nicht. Etwa Victor Lafay, der auf der 2. Etappe mit einem Coup den Tagessieg gelandet hatte. Auf der 20. Etappe musste er das Rennen nach einem Sturz aufgeben - kurz vor Paris. Ein letztes Drama vor der großen Erleichterung.