Die niederländische Radfahrerin Annemiek van Vleuten freut sich im gelben Trikot
Tourreporter

7. Etappe der Tour de France Femmes Annemiek van Vleuten - eine Klasse für sich

Stand: 30.07.2022 20:28 Uhr

Annemiek van Vleuten galt schon vor der Tour de France Femmes als große Favoritin. Auf der Königsetappe zerlegt sie das Peloton. Der Gesamtsieg ist ihr kaum noch zu nehmen.

Von Michael Ostermann, Le Markstein

Die Unterschiede waren auch am Ende in Le Markstein noch einmal deutlich zu erkennen. Grinsend kam Annemiek van Vleuten dort oben in 1.183 Metern Höhe im Ziel der 7. Etappe der Tour de France Femmes an, klatschte die Betreuer ab, nahm einen Shake entgegen und ließ dann einen Freudenschrei vernehmen.

Knapp dreieinhalb Minuten später kam Demi Vollering ins Ziel, die zumindest eine Weile mit ihrer Landsfrau mitgefahren, aber dann auch nicht mehr hinterhergekommen war. Kurz hinter der Ziellinie steuerte Vollering die Barriere an, ließ sich völlig verausgabt über ihren Lenker hängen und verharrte so eine Weile. "Es war fürchterlich", gab sie später frustriert zu Protokoll. "Ich habe alles gegeben, was ich hatte, aber es hat nicht gereicht."

Aus 1:28 Minuten Rückstand werden 3:24 Minuten Vorsprung

Leichtigkeit und Schwere, der Kontrast hätte größer nicht sein können an diesem Tag, an dem van Vleuten das Rennen mit einem bemerkenswerten Solo aus den Angeln gehoben hatte. Mit einem Rückstand von 1:28 Minuten auf das Gelbe Trikot war sie am Morgen in Sélestat gestartet. Mit einem Vorsprung von 3:14 Minuten vor Vollering führt sie das Klassement nun an.

Dass sie sich das Gelbe Trikot am Sonntag auf der Schlussetappe nach La Super Planche des Belles Filles noch einmal abnehmen lässt, glaubt niemand mehr. Sie selbst wohl auch nicht. "Noch habe ich es nicht in der Tasche", sagte van Vleuten. "Aber ich werde sicher ruhig schlafen mit diesem soliden Vorsprung."

Den Schlaf muss sie sich in der Tat nicht rauben lassen. Dazu war ihre Überlegenheit auf den drei schweren Anstiegen der Königsetappe in den Vogesen einfach zu deutlich. Schon am Petit Ballon, der ersten Hürde des Tages, lancierte van Vleuten ihren Angriff. "Es war ein Risiko, aber ich musste es versuchen", sagte sie. "Außerdem ist das die Art, wie ich Rennen fahre, nicht bis zum Finale zu warten."

Van Vleuten fährt genau nach Plan

Nur Vollering hatte ihr zunächst noch folgen können. Doch einen Kilometer vor dem Gipfel des zweiten Berges, dem Col du Platzerwasel, schüttelte van Vleuten dann auch ihre letzte Begleiterin ab wie eine lästige Fliege und fuhr die letzten 62 Kilometer alleine ins Ziel. "Ich wollte sie nicht mit ins Tal nehmen", erklärte van Vleuten. "Sie hätte sich nicht an der Führungsarbeit beteiligt, und dann wäre es am letzten Anstieg schwer geworden, sie loszuwerden."

Das alles folgte einem Plan, den sich das Team Movistar am Morgen zurechtgelegt hatte und den van Vleuten dann wie am Reißbrett vorgegeben umsetzte. "Sie hat es geschafft, den Tag auf spektakuläre Weise abzurunden", sagte der sportliche Liter der spanischen Équipe, Jorge Unzue, voller Stolz. Zurück blieben staunende und frustrierte Rivalinnen, die versuchten, das Erlebte irgendwie in Worte zu fassen.

"Bisher habe ich sie bei dieser Tour noch nicht so gut fahren sehen", sagte die Polin Katarzyna Niewiadoma, die als Drittplatzierte im Gesamtklassement schon 4:33 Minuten zurückliegt. "Natürlich weiß ich, dass sie schlau ist und ihre Energien spart, wenn es ihr nicht gut geht. Aber dass sie so früh so hart attackiert, das hat mich schon überrascht."

Drei Tage krank und dann "das Rennen zerstört"

Van Vleuten war schon vor der Tour de France Femmes die Topfavoritin auf den Gesamtsieg. Ihre Kletterkünste sind im Frauenpeloton unerreicht. Mitte Juli hatte sie schon den Giro d'Italia Donne überlegen gewonnen. Aber in den ersten Tagen der Tour hatte sie sich mit Magenproblemen geplagt. Sie habe noch vor drei Tagen ihren Koffer nicht alleine zumachen können, berichtete van Vleuten. Sie sei kurz davor gewesen, aufzugeben. "Es war eine Achterbahnfahrt", sagte sie.

Auf der 2. und 3. Etappe hatte sie auch deshalb Zeit auf die Konkurrentinnen eingebüßt, die sich schon Hoffnungen gemacht hatten, dass sie es der Niederländerin diesmal zumindest etwas schwerer würden machen können. "Und fünf Tage später zerstört sie das Rennen, stellt es auf den Kopf und übernimmt die Tour de France auf spektakuläre Weise", staunte selbst Unzue.

Hilflose Suche nach Erklärungen

Eine derartige Dominanz verlangt natürlich nach Erklärungen. Die junge Französin Juliette Labous (23), die sich auf Rang fünf der Gesamtwertung vorschob, erklärte etwas hilflos, van Vleuten habe "wahrscheinlich irgendwas in ihrem Körper, das ihr erlaubt stärker zu sein und härter zu trainieren". Man darf Labous nicht unterstellen, dass sie dabei etwas Böses im Sinn gehabt hat. Aber sie sieht die Trainingsdaten, die van Vleuten in einer App veröffentlicht, die sowohl von Profis als auch von Amateuren genutzt wird. "Ich kann nicht so viel trainieren wie sie. Sie ist einfach stark", stellte Labous fest.

Auch van Vleuten selbst wurde in Le Markstein darum gebeten, Gründe für ihre Überlegenheit zu nennen. "Das hat etwas mit meinem Fitnesslevel zu tun", sagte sie. Sie habe viele Jahre des Trainings hinter sich. Für die jüngeren Kolleginnen wäre es deshalb gar nicht möglich, so hart zu trainieren: "Ich bin 39 Jahre alt, das ist alles nicht plötzlich gekommen, sondern war ein Prozess über Jahre."

Ob das die einzige Erklärung ist, wird nur Annemiek van Vleuten selber wissen. Die erste Tour de France Femmes wird sie aber nun wohl als Siegerin beenden. Ein weiterer prestigeträchtiger Erfolg in ihrer an Siegen nicht armen Karierre. Auch ein zweiter Toursieg im kommenden Jahr ist noch möglich. Nach der Saison 2023 aber will van Vleuten Schluss machen. Und so lange noch härter trainieren als alle anderen.