Das Peloton bei der Tour de France Femmes
Tourreporter

Magersucht im Radsport Ungesundes Runterhungern

Stand: 31.07.2022 10:17 Uhr

Magersucht und Essstörungen sind im Radsport verbreitet. Marlen Reusser, Gewinnerin der 4. Etappe der Tour de France Femmes, fordert die Einführung von Regeln, um Fahrerinnen zu schützen.

Von Michael Ostermann, Le Markstein

Die Tour de France Femmes steht vor ihrem Finale. Die Niederländerin Annemik van Vleuten wird wohl die erste Gewinnerin des Gelben Trikots. Marlen Reusser wird das für den Frauenradsport so bedeutsame Ereignis nur aus der Ferne verfolgen können. Als sich das Feld am Samstag (30.07.2022) von Sélestat aufmachte zur ersten von zwei finalen Bergetappen, war die Schweizerin nicht mehr dabei.

Fahrerinnen sollten nur gesund am Start stehen

Auch Reusser gehört zu den zahlreichen Sturzopfern, die die Frauen-Tour bereits gefordert hat. Am Freitag war sie auf der 6. Etappe in einer Abfahrt gestürzt und war mit einer Viertelstunde Verspätung auf die Etappensiegerin ins Ziel gerollt. Anschließend war sie direkt ins Krankenhaus gebracht worden. Diagnose: Gehirnerschütterung. Ein Weiterfahren war für die Siegerin der 4. Etappe nicht mehr möglich.

Marlen Reusser

Marlen Reusser

Reusser wird darüber traurig sein, aber sie wird auch wissen, dass der Ausstieg aus der Tour die einzig richtige Entscheidung war. Sie fordert ja selbst, dass Fahrerinnen nur gesund am Start stehen sollten, was oft genug nicht der Fall ist. "Bei einem Radrennen ist eine gute Gesundheit Voraussetzung", hatte Reusser vor der Tour de France Femmes in einem Interview mit der Schweizer Boulevardzeitung "Blick" gesagt: "Wenn eine Person, die körperlich und psychisch krank ist, trotzdem teilnimmt, ist das absurd."

Genaue Zahlen gibt es nicht

Es ist vor allem das Thema Magersucht, das sie umtreibt. Reusser, 30, ist spät in den Profiradsport gekommen, nachdem sie zuvor ein Medizinstudium absolvierte. Sie hat einen anderen Blick auf das Geschehen. Es ist auch nicht das erste Mal, dass sie sich dazu geäußert hat. Schon 2019 machte sie ihre Sorgen um eine magersüchtige Teamkollegin öffentlich. Magersucht und Essstörungen seien ein großes Problem im Radsport, glaubt Reusser.

Wie groß lässt sich nicht genau sagen. Studien, die sich explizit auf den Radsport beziehen, gibt es nicht. Eine 2013 in Norwegen vorgelegte Meta-Studie, bei der die Ergebnisse von Untersuchungen in verschiedenen Ländern zusammengefasst wurden, stellte fest, dass disziplinübergreifend bis zu 45 Prozent der Hochleistungssportlerinnen ein gestörtes Essverhalten aufwiesen. Bei den Männern waren es 19 Prozent.

Der Radsport gehört zu den besonders gefährdeten Sportarten, weil hier das Verhältnis von Körpergewicht und Kraft eine entscheidende Rolle spielt. Und das Thema betrifft auch nicht nur den Frauenradsport. Der deutsche Radprofi Dominik Nerz beendete 2016 seine Karriere und machte anschließend seine Magersucht öffentlich.

Fahrerinnen-Gewerkschaft stellt Informationen zusammen

"Bei den Frauen ist das Thema speziell", sagt die Ernährungs- und Sportwissenschaftlerin Judith Haudum. Die Angst vor dem Essen, zu viel zu essen, daraus entwickle sich leicht eine Essstörung. Den Teams fehle es dabei häufig an Wissen, um zu erkennen, wann eine Fahrerin ein problematisches Essverhalten entwickle. Auch die Fahrerinnen wüssten oft nicht, wie viel Energiezufuhr sie eigentlich benötigen. "Viele sind sehr unsicher", sagt Haudum.

Die Fahrerinnengewerkschaft "Cyclists Alliance", die nach eigenen Angaben zwischen 40 und 50 Prozent der Fahrerinnen bei der Tour de France Femmes vertritt, will daran etwas ändern. Sie will ihren Mitgliedern und den Teams auf einer digitalen Plattform die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellen. "Wir haben für unsere Mitglieder eine Website eingerichtet, die sich Duty of Care Framework nennt", sagt die Vorsitzende Iris Slapendeel.

Dieser Rahmen für eine Sorgfaltspflicht gegenüber den Fahrerinnen soll die Informationslage verbessern. Dass das dringend nötig ist, glaubt auch Ronny Lauke, der Chef des deutschen Women's-World-Tour-Teams Canyon/SRAM. Er selbst hat 2011 noch als Sportlicher Leiter beim Team Highroad mitbekommen, wie eine seiner Fahrerinnen eine Magersucht entwickelte.

"Deswegen ist es uns wichtig, dass unsere Fahrerinnen ordentlich versorgt sind", sagt Lauke: "Und wir nehmen viel Geld in die Hand, um uns mit Spezialisten zu umgeben." Spitzensport sei eine Gratwanderung, und manche Fahrerin gerate dabei ins Trudeln, weil man eben besser die Berge hochkomme, wenn man leicht sei: "Dieses System möchten wir kontrollieren."

Body Mass Index und andere Parameter geben Hinweise

Lauke weiß aber auch, dass nicht bei allen Teams das Bewusstsein für das Problem vorhanden ist. Marlen Reusser ist deshalb sicher, dass die Mannschaften das Problem nicht alleine lösen können. Alle Teams würden den maximalen Erfolg wollen und Teamärzte würden diesen gefährden, wenn sie eine Fahrerin aus dem Verkehr ziehen wollten, wenn sie eine Essstörung feststellten, glaubt sie.

7. Etappe - die letzten drei Kilometer

Sportschau, 30.07.2022 17:54 Uhr

Reusser fordert deshalb eine Regelung seitens des Radsportweltverbandes UCI. Ähnlich wie beim Skispringen, bei dem eine Untergrenze beim Body Mass Index (BMI) eingeführt wurde, um das ungesunde Herunterhungern zu verhindern. Die Ernährungswissenschaflterin Haudum, die für die "Cyclists Alliance" an dem Duty of Care Framework mitarbeitet, findet, dass eine einzige Kennzahl wie der BMI zu wenig sei.

Die UCI schreibt eine jährliche medizinische Untersuchung aller Fahrerinnen in der Women's World Tour am Anfang der Saison vor. Dazu kommt ein weiterer Bluttest Mitte des Jahres. Bei diesen Untersuchungen, sagt Haudum, könne man weitere Parameter miteinbeziehen, die auf eine Mangelernährung und damit auf eine Essstörung hinweisen, etwa die Knochendichte, Sexualhormone und bestimmte Blutwerte. Auch das Ausbleiben der Regelblutung sei bei Frauen ein Hinweis auf eine Magersucht. "Man muss sich das gesamte Bild ansehen", sagt Haudum.

Reusser will den UCI-Präsidenten treffen

Fahrerinnen, bei denen dieses Bild auf ein gestörtes Essverhalten hinweist, könnten dann die Starterlaubnis entzogen werden. Teamchef Lauke ist allerdings skeptisch, ob dieser Weg gangbar ist. Auch er findet, dass es eine Regelung geben muss: "Aber man spricht ja letztlich ein Berufsverbot aus, was dann zu einer Klagewelle führen kann."

Marlen Reusser hat vor der Tour de France Femmes einen Brief an UCI-Präsident David Lappartient geschrieben, um über entsprechende Maßnahmen zu sprechen. Der Franzose hat auch schon zugesagt. Nur ein Termin hat sich noch nicht gefunden.