Radsport | Giro d'Italia Giro-Gewinner Hindley: Musterschüler in Rosa

Stand: 30.05.2022 07:15 Uhr

Der 26-jährige Australier Jai Hindley ließ sich im abschließenden Zeitfahren in Verona nicht bezwingen und sorgt für eine Doppelpremiere. Erstmals gewinnt ein Profi vom fünften Kontinent die Italienrundfahrt. Und erstmals darf sich der oberbayrische Rennstall Bora-hansgrohe über einen Grand Tour-Triumph freuen.

Von Tom Mustroph (Verona)

Die Last der Verantwortung drückte ihn nicht nieder. Auf der Königsetappe des Giro d’Italia am Samstag (28.5.2022) in den Dolomiten nutzte Jai Hindley beherzt die letzte Chance, die er noch hatte, um den Giro d’Italia zu gewinnen. "Ich wusste, der letzte Berg stellt die allerletzte Möglichkeit dar, Rosa zu erobern. Also habe ich alle Kräfte mobilisiert", sagte Hindley.

Doch selbst alle Kräfte des Australiers hätten womöglich nicht ausgereicht, um Olympiasieger Richard Carapaz entscheidend zu distanzieren. Hindley kam eine mächtige Beschleunigung seines Teamkollegen Lennard Kämna etwa 3 km vor dem Zielstrich auf dem Fedaia-Pass zugute.

Der Australier klemmte sich ans Hinterrad des Norddeutschen. Und erst als er nach hinten linste, sah er, dass Carapaz nicht folgen konnte. Das war der entscheidende Moment dieses Giro. Hindley bedankte sich später artig bei Kämna. "Lennard hat einen phantastischen Job gemacht. Der Impuls, den er mir gab, gab auch den Ausschlag", sagte er.

Der Kapitän als Teamplayer

Hindley erwies sich als Teamplayer. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hob er den Anteil der Teamkollegen an seinem Erfolg hervor. Im Umgang mit ihnen zeigt er sich auch pflegeleicht. "Er ist ein extrem netter Typ, und auch sehr ruhig. Dafür, dass er so stark fährt und um den Sieg mitfährt, wirkt er extrem gelassen", lobte ihn in der vergangenen Giro-Woche Teamkollege Emanuel Buchmann im Gespräch mit der Sportschau. Buchmann hatte da schon längst seine Co-Kapitänsrolle aufgegeben und seine Kräfte für den neuen alleinigen Leader des Teams eingesetzt.

Dass andere ihn schätzen und deshalb gern für ihn arbeiten, kommt dem Mann aus Westaustralien natürlich zugute. Bora-hansgrohe wirkte bei diesem Giro wie aus einem Guss – und ermöglichte so den doch überraschenden Triumph des neuen Stars. Der machte am Sonntag beim Zeitfahren die Sache rund. Zwar verlor er sieben Sekunden auf seinen ärgsten Rivalen Carapaz. Aber die Triumphfahrt zuvor in den Dolomiten hatte ihm einen beruhigenden Vorsprung verschafft.

Psychische Stabilität

Hindley ließ sich auch nicht von störenden Geistern aus der Vergangenheit aus dem Konzept bringen. "Natürlich gingen mir beim Zeitfahren noch die Ereignisse aus dem Jahr 2020 durch den Kopf. Auch da hatte ich das Rosa Trikot am vorletzten Tag erobert. Ich verlor es aber beim Zeitfahren danach. Ich wollte selbstverständlich nicht, dass mir dies wieder passiert. Ich verdrängte aber alle Gedanken daran, dass es jetzt um den Giro-Sieg und einen historischen Moment geht und wollte nur ein gutes Zeitfahren absolvieren", erklärte er später. Das gelang ihm. Die pragmatische Konzentration aufs Wesentliche mag ihm geholfen haben.

Radsport-Veteran mit 26 Jahren

Und wohl auch, dass Radsport das ist, was er am besten kennt. Obwohl er erst 26 Jahre alt ist, kann man ihn bereits als Veteran bezeichnen. "Seit ich sechs Jahre alt bin, fahre ich Rad. Mein Bruder und mein Vater brachten mich dazu", sagte er der Sportschau. Vater Gordon Hindley ist ein wahrer Radsportenthusiast. Er gründete sein eigenes Team namens GDT – Gordon’s Development Team.

Für GDT fuhr auch der Junior. Er kam dann ins australische Nachwuchsprogramm, nahm unter anderem mit dem Nationalteam vor sechs Jahren am renommierten Nachwuchsrennen Tour de l’Avenir teil. Gesamt-Fünfter wurde er dort – eingerahmt von Egan Bernal, dem späteren Tour de France-Sieger, und Tao Geoghegan Hart. Gegen den Briten verlor er 2020 den Giro.

Sportschau Tourfunk, 30.05.2022 16:00 Uhr

Teil einer ganzen Rundfahrer-Garde

Seine weitere Radsportausbildung erhielt er in Italien, bevor Team Sunweb ihn verpflichtete. Von dort kam er zu Beginn dieser Saison zu Bor- hansgrohe. Bei dem Raublinger Rennstall ist er Teil einer ganzen Garde von talentierten Rundfahrern. Dazu gehören die ebenfalls neu verpflichteten Alexander Wlassow und Sergio Higuita, aber auch die schon länger im Rennstall befindlichen Buchmann und Kämna, der Giro-Co-Kapitän Wilco Kelderman, der italienische Rohdiamant Giovanni Aleotti sowie die Österreicher Felix Großschartner und Patrick Konrad.

Mit dieser Schar kann Bora gleich drei starke Rundfahrtteams bestücken. Wie Gesamtsiege gehen, weiß der Rennstall dank des Radsportmusterschülers Jai Hindley nun auch.