Paralympics | Peking 2022 Stichwort Klassifizierung - Chancengleichheit bei den Paralympics?

Stand: 10.03.2022 15:11 Uhr

Chinas blitzartiger Aufstieg zur dominanten Nation bei den Winter-Paralympics in Peking ruft den Argwohn der Konkurrenz hervor. Im Fokus steht unter anderem die seit Jahrzehnten kontrovers diskutierte Klassifizierung der Athletinnen und Athleten.

Von Maximilian Hendel

Oksana Masters fuhr noch einmal auf Anschlag. Im Nähmaschinenrhythmus hämmerte die 32-Jährige ihre Stöcke unbarmherzig in den nassen Schnee auf der Zielgeraden im Stadion von Zhangjiakou. Stockschlag um Stockschlag presste sie Luft aus ihrem Mund, zog sich dabei Meter um Meter an die in Führung liegende und nun fast aus dem Schlagrhythmus gekommene Hongqiong Yang heran.

Yang gewinnt Gold, Masters schüttelt den Kopf

Aber es sollte nicht genügen. Yang rettete im Finale des paralympischen Langlauf-Sprints in der sitzenden Klasse nach 1,1 Kilometern laktatfordernder Tempoquälerei im anaeroben Bereich noch 1,7 Sekunden Vorsprung über die Ziellinie.

Masters, Aushängeschild des US-amerikanischen Paralympics-Teams, würdigte der chinesischen Siegerin in diesen Momenten aus einiger Distanz kaum einen gratulierenden Blick. Stattdessen schüttelte sie verärgert den Kopf, immer wieder, haderte sichtlich – auch noch im kurzen Austausch mit der unterdessen abgeschlagen angekommenen Teamkollegin Kendall Gretsch und Christina Picton aus Kanada.

Chancengleichheit? "Bestimmte Klassen definitiv bevorzugt"

Der Unmut galt keineswegs ihrer eigenen Leistung, sondern den grundlegenden Voraussetzungen der Wettbewerbe. Die tagesaktuellen Bedingungen auf der durch die ansteigenden Temperaturen zunehmend ramponierten Strecke erwähnte Masters später zwar nicht, jedoch umso deutlicher den ihrer Meinung nach fehlenden skifahr-technischen Anspruch des Kurses: "Das bevorzugt definitiv bestimmte Klassen, sicher."

"Kritisiere das Spiel und nicht die Spieler", betonte Sportschau-Kommentator Julian Wiegmann sinngemäß im ARD-Livestream. Masters' Vorwurf zielte einmal mehr auf die auch bei diesen Paralympics von Peking sportartenübergreifend allgegenwärtige Problematik der Klassifizierung - also die Einschätzung des Schweregrades der jeweiligen Beeinträchtigung bei den Athletinnen und Athleten und einem daraus abgeleiteten Faktor für Zeitgutschriften. Ziel ist eine größtmögliche Chancengleichheit für alle.

Yang durfte 26 Sekunden früher auf die Strecke

Die "sitzende Klasse" im Ski Nordisch etwa, wo Athletinnen und Athleten im Wettkampf die unteren Extremitäten nicht außerhalb ihres Schlittens- beziehungsweise Monoskis führen dürfen, weist fünf sogenannte "Locomotor Winter"-Einstufungen (LW) von 10 bis 12 auf. Die deutsche Biathlon-Medaillengewinnerin Anja Wicker etwa zählt zum LW10,5. Doppel-Paralympicssiegerin Hongqiong Yang wird als LW10 eingeschätzt, Oksana Masters als LW12.

Durch den höheren Einschränkungsgrad werden Yangs Rennen mit einem Zeitfaktor von 86 Prozent im Vergleich zu Masters' LW12 (100 Prozent) berechnet. Konkret durfte Yang durch diese 14 Prozent Unterschied im Langlauf-Sprint 26 Sekunden eher als ihre größte Konkurrentin auf die Strecke.

Kleinteiliges, kompliziertes Klassifizierungssystem

Das Bundesinstitut für Sportwissenschaft hat vor Jahren eine auf 38 Seiten detaillierte Übersicht des kleinteiligen und komplizierten Klassifizierungssystems für die paralympischen Sportarten aufgelegt. Die Einteilung der Athletinnen und Athleten nimmt ein unabhängiges medizinisches Prüfpersonal mittels eines intensiven Funktionentests vor. Diese wird von Erfahrungen und (Weltcup-)Vorleistungen beeinflusst und ist zudem flexibel, kann und muss gegebenenfalls also im Verlauf einer Karriere neu begutachtet und kontrolliert werden.

Die aktuell gültigen Klassifizierungen für Para Ski Nordisch (Langlauf und Biathlon), Para Ski Alpin, Para Eishockey und Rollstuhl-Curling richten sich nach dem Code des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC) von 2015.

"Staunen" über die chinesischen Fließbanderfolge

Kontroversen darüber aber werden schon so lange geführt, wie es den organisierten Para-Sport gibt. Allen voran aufgrund der Husarenstücke des chinesischen Teams sind die nun aber so präsent wie lange nicht. Vor den Heimspielen 2022 von Peking gewann es nur ein einziges Edelmetall überhaupt bei Winter-Paralympics – Gold im Rollstuhl-Curling 2018 in Pyeongchang. Vier Jahre später nun führt China drei Wettkampftage vor Schluss die Nationenwertung mit schon 32 Medaillen – darunter zehn goldene – haushoch an.

"Ich will nicht sagen", so Karl Quade, dass die chinesischen Starterinnen und Starter "nicht Skifahren können" und die urplötzlichen Fließbanderfolge der Klassifizierung zugrunde liegen. Aber "wenn man das mit den Funktionsbildern von anderen mit gleichen Prozenten vergleicht, kann man schon manchmal staunen, wie das zustande kommt", gab der Chef de Mission aus Deutschland zu bedenken.

Paralympicssieger Berg beklagt "Klassifizierungsdoping"

Bei den Gastgebern sei das "Problem, dass sie seit Jahren nicht mehr auf der internationalen Bühne aufgetreten sind", sagte Anna Schaffelhuber. Das bedeutete, so die Sportschau-Expertin und mehrfache alpine Paralympicssiegerin, dass es gerade durch die Weltcups mögliche Reviews der Klasseneinteilungen "bei ihnen nicht gegeben" habe. Ein Grund dafür sind unter anderem auch die rigiden Reisebeschränkungen in China seit Ausbruch der Coronavirus-Pandemie.

ZDF-Experte Matthias Berg wiederum beklagte fehlende Klassifizierer aktuell vor Ort und sprach in diesem Zuge von "Klassifizierungsdoping". Wenn man sich "die Bilder anschaut", stellt sich bei "vielen die Frage, ob die in der richtigen Klasse sind", meinte der frühere Weltklasse-Athlet und elfmalige Paralympicssieger. Er betonte zudem die Notwendigkeit von mehr und besseren Messungen gerade bei Teillähmungen.

DBS-Präsident: Klassifizierung muss "ganz oben auf die Agenda"

"Ich hatte die Hoffnung, dass das IPC die Achillesferse der Klassifizierung überwunden hat", meinte Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS), Anfang dieser Woche: "Die Spiele haben aber jetzt schon gezeigt, dass die Diskussion ganz oben auf der Agenda stehen muss. Was da in einigen Disziplinen gelaufen ist, da kann man einfach nicht schweigen." Der Weltverband habe es im Vorfeld versäumt, kritisierte der 75-Jährige, "für einen nachvollziehbaren und ehrlichen Wettkampf zu sorgen. So hat das Ganze einen faden Beigeschmack."

Para Ski Alpin: Einbeinige chancenlos

Diesbezügliche Auseinandersetzungen beschränken sich aber längst nicht nur auf das chinesische Team. Ein Paradebeispiel etwa bot auch der Riesenslalom in der stehenden Klasse der Männer, wo über 40 Teilnehmer aus sämtlichen alpinen Einschränkungsklassifizierungen (LW1 bis LW9) um die drei Medaillen fuhren.

Davide Bendotti (Italien) und Leander Kress aus Friedberg bei Augsburg – die beiden besten einbeinigen Starter (LW2) – landeten auf den Plätzen 21 und 22, zwölf beziehungsweise 14 Sekunden hinter Sieger Santeri Kiiveri (LW6/8-1) aus Finnland. "In diesem Faktorsystem hat man mit einem Bein keine reelle Chance zu gewinnen. Man muss Zeiten fahren, die nicht mehr realistisch sind", kritisierte Alexander Spitz, Kress‘ Mentor und selbst viermaliger Paralympicssieger.

Para Snowboard: Sieg vor Gericht, Medaillen in Peking

Im Snowboard wiederum erstritten sich die Französin Cecile Hernandez und die US-Amerikanerin Brenna Huckaby erst unmittelbar vor Beginn der Paralympics vor deutschen Gerichten – das IPC sitzt in Bonn – ihre Starterlaubnis. In Hernandez‘ und Huckabys eigentlicher Startklasse (LL1) kam mangels Starterinnen kein Wettkampf zustande. Sie bemühten sich daher um einen Start bei den LL1-Männern oder in der LL2 der Frauen, wo die Konkurrentinnen einen geringeren Beeinträchtigungsgrad als sie selbst haben.

Das IPC untersagte ihnen die Teilnahme mit Verweis auf das Klassifizierungssystem – ehe die Gerichte zugunsten der beiden Athletinnen urteilten. Am vergangenen Montag (07.03.2022) gewann Cecile Hernandez im Snowboard Cross der LL1-Frauen die Goldmedaille, Bronze holte Brenna Huckaby.

Masters trifft noch einmal auf Yang

Trotz ihrer bis dato zwei Langlauf-Niederlagen gegen Hongqiong Yang fährt die sowohl bei den Sommer- als auch Winter-Paralympics hochdekorierte Oksana Masters nicht ohne Gold aus Peking nach Hause. So viel steht bereits seit dem ersten Wettkampftag fest, als die 32-Jährige im Biathlon-Sprint triumphierte.

Am Samstag bekommt Masters im Langlauf noch mal eine Chance gegen Yang - dann über die 7,5-Kilometer-Mitteldistanz. Egal, wie dieses Rennen ausgeht, die Klassifizierungsdiskussion wird bleiben.