Boykott der Winterspiele Asien-Expertin: "Die Spiele an Peking zu vergeben ist natürlich ein hochpolitischer Akt"

Stand: 09.12.2021 19:24 Uhr

Dr. Mareike Ohlberg ist Senior Fellow im Asienprogramm des German Marshall Fund. Im Interview mit der Sportschau spricht sie über die Wirksamkeit eines diplomatischen Boykotts der Winterspiele in Peking, die verschwundene Tennisspielerin Peng Shuai und die vermeintlich politische Neutralität des IOC.

Sportschau: In wenigen Wochen starten die Olympischen Winterspiele in Peking. Was verspricht China sich davon, Gastgeber eines der größten Sportereignisse der Welt zu sein?

Mareike Ohlberg: Genauso wie 2008, als die Sommerspiele dort stattfanden, ist es auch mit den Winterspielen. Es ist immer noch ein Zeichen: Man ist angekommen auf der Weltbühne. Man hat dieses Standing, dass man in der Lage ist, die Spiele auszurichten. Und man hat den vollsten Respekt der Weltbevölkerung. Man präsentiert sich der Welt und zeigt gleichzeitig der eigenen Bevölkerung, dass man eben diese große Anerkennung hat. Und deswegen ist es nach wie vor, auch wenn China natürlich noch um einiges stärker ist als 2008, ein wichtiges Symbol für die chinesische Regierung.

Sportschau: Am Montag erklärten die USA, die Winterspiele in Peking diplomatisch zu boykottieren. Weitere Länder wie Großbritannien, Australien oder Kanada haben sich bereits angeschlossen. Kann es einem so mächtigen Land wie China nicht egal sein, ob ausländische Politikerinnen und Politiker nun anreisen oder nicht?

Ohlberg: Ein diplomatischer Boykott ist natürlich ein symbolischer Akt. Letztlich geht es ja um die Außenwirkung. Wie sich China darstellt. Und deshalb ist es der chinesischen Regierung wichtig, dass die Olympischen Spiele nicht von einem solchen diplomatischen Boykott überschattet werden. China hat darauf reagiert, indem sie gesagt haben "Wir haben euch ja gar nicht eingeladen". Hier soll also ein bisschen Schadensminimierung betrieben werden. Aber gerade diese recht empfindliche Reaktion zeigt, dass es der chinesischen Regierung etwas ausmacht, wenn ein diplomatischer Boykott angekündigt wird.

Sportschau: Erwarten Sie, dass sich noch weitere Länder den USA anschließen?

Ohlberg: Ich gehe davon aus, in einigen Ländern wird das ja bereits diskutiert. Ich muss sagen, ich wäre extrem enttäuscht als Europäerin, wenn sich kein europäisches Land mehr anschließen würde. Und ich wäre tatsächlich sehr enttäuscht von Deutschland, wenn es sich nicht dazu durchringt.

Sportschau: Der neue Kanzler Olaf Scholz hat sich da bisher sehr zurückhaltend gegeben. Wie erklären Sie sich dieses Zögern?

Ohlberg: Ich glaube, in der China-Politik sieht sich Olaf Scholz als Nachfolger von Angela Merkel, die einen sehr beschwichtigenden Kurs gefahren ist. Dieser Kurs war darauf ausgerichtet, die chinesische Regierung nicht zu verärgern und bestimmte Zweige der deutschen Wirtschaft vor Vergeltungsmaßnahmen aus China zu schützen. Ich habe den Eindruck, dass man vor diesen Vergeltungsmaßnahmen mehr Angst hat, als man eigentlich bräuchte. Da wird auf das vermeintlich deutsche Interesse, was aber eigentlich das Interesse von einigen Großkonzernen ist, geachtet. Es wurde ja berichtet, dass Herr Scholz signalisiert haben soll, den China-Kurs von Frau Merkel fortzuführen. Von daher ist es als Reaktion von ihm erst einmal gar nicht überraschend. Aber nur weil etwas nicht überrascht, heißt das ja nicht, dass man davon nicht enttäuscht sein kann.

Sportschau: Welche Signalwirkung hat das auf andere Länder? Viele europäische Staaten orientieren sich an Deutschland.

Ohlberg: Das ist das Problem bei der ganzen Sache. Deutschland schaut bei großen China-Fragen gerne auf kleinere Länder und sagt "die halten uns ja zurück". Aber viele kleinere Länder, man nenne hier allen voran Litauen, sind tatsächlich um einiges weiter als Deutschland und bereit, einiges mehr zu riskieren, um für ihre eigenen Werte einzustehen. Ja, Deutschland ist tonangebend, und das macht es letztlich natürlich noch viel ärgerlicher. Sollte Deutschland bei einem diplomatischen Boykott nicht mitziehen, hoffe ich, dass sich andere Länder davon nicht allzu sehr beeindrucken lassen.

Sportschau: In diesem politischen Geflecht befindet sich auch das IOC – die Besitzer der Olympischen Spiele. Angesprochen auf die diplomatischen Boykotte hat Thomas Bach erneut die politische Neutralität des IOC und der Spiele betont. Wie kann eines der größten sportlichen Ereignisse, insbesondere wenn es in China stattfindet, politisch neutral sein?

Ohlberg: Das ist natürlich ein sehr billiger Talking-Point, die politische Neutralität. Jeder, der sich für drei Sekunden damit beschäftigt, weiß: keine Entscheidung zu treffen ist auch eine Entscheidung. Die Spiele an Peking zu vergeben, ist natürlich ein hochpolitischer Akt, der auch von allen Seiten als politisch wahrgenommen wird. Es gab lange Boykott-Aufrufe wegen der extrem schweren Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang. Wenn man darauf nicht reagiert, dann ist das kein politisch neutraler Akt. Sondern man stellt sich auf die Seite der chinesischen Regierung. Das ist ein extrem simples Prinzip, bei dem ich mir sicher bin, dass das IOC dieses Prinzip auch versteht. Das ist die Richtung, der Spin, den man gewählt hat und der häufig bei Sportereignissen gewählt wird. Aber das ist natürlich als solches Unsinn.

Sportschau: Diese Zurückhaltung des IOC zeigte sich zuletzt im Fall der verschwundenen Tennisspielerin Peng Shuai. Wie bewerten Sie diese Positionierung des IOC?

Ohlberg: Feige. Weil man gerade bei diesem Fall gesehen hat, dass es auch anders geht. Wir haben die Women’s Tennis Association, die sich extrem klar positioniert hat. Die WTA hat gefordert, selbst mit ihr sprechen zu können und ist letztlich den Schritt gegangen, Spiele in China offiziell zu canceln. Das sind alles Dinge, die man als Sportorganisation tun kann, wenn man denn nur möchte. Das IOC hat aber bewusst die Entscheidung getroffen, das nicht zu tun. Das ist in dem Fall bedauernswert. Und es ist auch bedauernswert, dass wir das als Gesamtgesellschaft durchgehen lassen. Dass wir nicht mehr Verantwortung vom IOC einfordern und nicht gewisse Konsequenzen fordern, wenn das eben nicht passiert. Das IOC kommt noch überraschend häufig damit durch. Und das ist natürlich auch unser Problem, dass wir das mitmachen.

Sportschau: Das IOC sagt, dass es im "Fall Peng Shuai" seiner Verantwortung gerecht wurde und verweist auf zwei Video-Gespräche mit der Tennisspielerin, bei denen es sich versichern konnte, dass es ihr dem Anschein nach gut gehe.

Ohlberg: Es ist nicht nur so, dass diese zwei Video-Gespräche ihre Sicherheit nicht garantieren, es ist sogar so, dass es sie stärker gefährdet. Weil das IOC bei der Sache mitspielt. Wir wissen von extrem vielen Fällen, in denen Menschen unter Hausarrest gestellt wurden, in denen Menschen verschwunden sind. Wir wissen von allen Fällen, dass Aufmerksamkeit, Medienwirksamkeit den Menschen hilft, dass sie besser behandelt werden. Und eben nicht Vertuschung. Und das ist letztlich das, was das IOC macht. Man hilft der chinesischen Regierung, das Verschwinden zu vertuschen. Indem man mit seinem Namen dafür einsteht, dass alles in Ordnung sei. Und das ist für Menschen, die sich in solchen Situationen befinden, wahnsinnig schlecht, das schadet ihnen aktiv. Ich weiß gar nicht, was ich dazu noch sagen soll. Das ist absolut verantwortungslos.

Sportschau: Was bezweckt das IOC dann mit diesem Vorgehen?

Ohlberg: Das IOC hat ein großes Interesse gerade: dass die Aufrufe nach Boykotten verschwinden. Und dass die Medienaufmerksamkeit um diesen Fall, der ja auch tatsächlich verbunden war mit Forderungen nach einem Boykott, so schnell wie möglich verschwindet. Das IOC hat sich erhofft, dass wenn es mit seinem Namen dafür einsteht, dass Peng Shuai sicher ist, die Aufmerksamkeit davon wieder weggeht und man sich weniger Sorgen um die Spiele machen muss. Also klares Eigeninteresse.

Sportschau: Das IOC beruft sich auf die Methode der "stillen Diplomatie". Liegt es damit falsch?

Ohlberg: Es gibt Plätze für stille Diplomatie. Gerade in der Vergangenheit hat das manchmal zum Erfolg geführt. Liu Xia hat man so nach acht Jahren Hausarrest aus China rauskriegen können. Das wird aber immer schwieriger. In dem Fall von Peng Shuai hilft aber gerade Aufmerksamkeit - also laute Diplomatie. Weil es darum geht, die Person aus der Öffentlichkeit auszulöschen. Ich würde das, was das IOC macht, noch nicht einmal als stille Diplomatie bezeichnen. Es ist Aushilfe, das Verschwinden zu vertuschen.

Sportschau: Zum Abschluss würde ich gerne noch einmal zu den Aufrufen zum Boykott der Spiele kommen. Vereinzelt gibt es auch Stimmen, die einen kompletten Boykott der Spiele fordern. Also, dass auch Athletinnen und Athleten angesichts der Menschenrechtsverletzungen nicht nach China reisen sollten. Wie bewerten Sie eine solche Forderung?

Ohlberg: Es hätte auf jeden Fall größere Symbolkraft als ein diplomatischer Boykott. Es würde noch stärker auffallen, wenn mehrere Länder bei den Olympischen Spielen tatsächlich nicht vertreten sind. Ich rechne nicht damit, dass es passieren wird, weil da natürlich viele Interessen drin verstrickt sind. Wenn sich mehrere Länder zu einem diplomatischen Boykott durchringen können, ist das gut. Man hat aber trotzdem das Problem, dass man Sportler in ein Land schickt, in dem eben Menschen verschwinden. Was jetzt nicht heißt, dass da reihenweise Athleten verschwinden werden, die zu den Winterspielen nach Peking fahren. Aber man schickt sie in ein Land, wo eben diese Rechtssicherheit nicht gegeben ist und in dem man letztlich ihre Sicherheit nicht garantieren kann. Es hätte eine wichtige Wirkung und es hätte in diesem Fall eine relativ gute Begründung.

Sportschau: Welche Verantwortung tragen da die einzelnen Athletinnen und Athleten?

Ohlberg: Ich sehe es so, dass es falsch wäre, die Verantwortung auf den individuellen Athleten zu schieben. Wenn es keinen Boykott gibt, dann kann man darüber nachdenken, auf individueller Ebene etwas zu tun. Aber der Fokus sollte tatsächlich auf den Organisatoren liegen, auf dem IOC, die da weit mehr in der Verantwortung stehen und viel wichtigere Entscheidungen treffen können, als das jede Einzelperson tun könnte.

Das Gespräch führte Tom Klees