Verdächtige Kampfrichter bei Olympia im Einsatz 5000 Euro Bestechungsgeld im Säbelfechten
Ein deutscher Kronzeuge aus der Fechtszene packt aus und erhebt schwere Manipulationsvorwürfe gegen die Führung des Fecht-Weltverbandes. In den USA laufen Untersuchungen.
Wer sich mit Marcus Schulz über das Säbelfechten unterhält, hört sofort die Leidenschaft des Düsseldorfers für den Sport heraus. Als er als Kind das Fechten erlernt hat, sagt Schulz, sei der Trainer für ihn zu einer Art Ersatzvater geworden. Ihn habe er häufiger gesehen als seine Eltern.
Nach seiner aktiven Karriere hat Schulz die Begeisterung nicht losgelassen: Er absolvierte eine Kampfrichterausbildung und verbrachte dann die Wochenenden nicht mehr auf, sondern an der Planche. Auch bei großen internationalen Meisterschaften. Bis zum vergangenen Jahr. Da zog sich Schulz als Kampfrichter zurück vom Säbelfechten: "Ich bin frustriert."
Er kann sogar recht genau festmachen, wann ihm seine Begeisterung abhandengekommen ist: Es war der Tag, an dem er angesprochen wurde, Gefechte gegen Geld zu verschieben. Zu betrügen. Seinen Sport zu verraten. "Da", sagt Schulz, "ist etwas in mir zerbrochen." Heute ist Schulz Kronzeuge zur Korruption im Fechten.
Verdächtige Kampfrichter
In Fecht-Fachkreisen kennen sie solche und ähnliche Vorwürfe der Schiebung. Inzwischen gibt es vielerlei Hinweise. In den USA wurden Kampfrichter gesperrt, Athleten verwarnt und Untersuchungen eingeleitet. Der Internationale Fechtverband FIE wurde informiert. Nur passiert ist nichts. Bei den Olympischen Spielen in Paris, wo die Säbelfechtwettbewerbe am Sonntag (04.08.2024) zu Ende gegangen sind, waren der Manipulation verdächtigte Kampfrichter sogar in Finalrunden nominiert – obwohl die Vorwürfe bekannt sind und das Risiko bestehen musste, sie träfen zu.
Von der ARD dazu befragt, verweist das von einem früheren Fecht-Olympiasieger, dem Deutschen Thomas Bach, angeführte Internationale Olympische Komitee (IOC) nur lapidar an den Welt-Fechtverband. Der teilt nicht minder lapidar mit, er habe in der Qualifikation und bei Olympia streng beobachtet, aber keine Unregelmäßigkeiten festgestellt. Längst sind sich Experten einig: Der Weltverband selbst ist das Problem.
Das Fechtsystem Usmanow
Vor 16 Jahren war er vom Putin-nahen Oligarchen Alischer Usmanow übernommen worden. Der pumpte in den Weltverband einer Randsportart riesige Geldsummen, Hochrechnungen gehen von knapp 100 Millionen Dollar aus. Geld – den Mechanismus kennen Sportpolitik-Experten aus dem Welt-Fußball-Verband FIFA oder dem IOC – schafft Einfluss, Macht und Freunde. Oft profitieren kleinere, ärmere Nationalverbände und bedanken sich mit Stimmen und Unterstützung. Auf dem Fechtsystem Usmanow lastet der Ruch der Käuflichkeit. Dass sich das bis auf das Schiedsrichterwesen hinunterziehen soll, scheint kaum erstaunlich.
"Sie werden Dich nie nach oben lassen“
Zwar hat der Oligarch sich nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine mehr oder weniger freiwillig suspendiert, die EU und andere Länder führen ihn auf einer Geächtetenliste, aber sein Verbandsapparat arbeitet weiter.
"Seine Leute, die er überall eingesetzt hat, die Politiker, seine Vasallen, die herumreisen und die ganzen Verbände überzeugen, ihnen ihre Stimmen zu geben, vor allem in Afrika, in der Karibik und in Asien, die sind ja alle noch da", sagt der frühere Kampfrichter Schulz, "es werden ja im Hintergrund genau die gleichen Fäden gezogen."
Der Augenblick seiner eigenen Desillusionierung hat sich bei Schulz tief eingeprägt: "Mein ehemaliger Trainer kam viele Jahre später zu mir bei einem Wettkampf. 'Also Marcus, ich muss mit dir reden.' Ja, klar, kein Problem. Und dann sind wir auf sein Hotelzimmer gegangen. Er hat mir gesagt: 'Marcus, wärst du bereit, gewisse Vorteile anzunehmen? Du bist auch bei der Olympia-Qualifikation in Prag. Also für den und den Fechter würden wir dir 5000 Euro bieten.'"
In dem Moment sei für ihn "die ganze Welt zusammengebrochen", sagte Schulz: "Ich hab‘ mir das nicht vorstellen können. Ich habe ihm natürlich gesagt: 'Auf gar keinen Fall!' Und er meinte dann zu mir: 'Sei nicht naiv. Versuchst du jetzt, ein guter Junge zu sein oder was? Du wirst es nie nach oben schaffen, sie werden Dich nie nach oben lassen. Du wirst nie ein Top-Kampfrichter werden. Entweder spielst Du mit uns, oder Du bist gegen uns.'“
"Manipulierbar für den Kampfrichter“
Das Problem liegt offenkundig im Regelwerk des Säbelfechtens: Obwohl Elektronik zur Trefferzählung eingesetzt wird und Videoaufzeichnung zur Entscheidungsüberprüfung wie beim Fußball stattfindet, bleibt dem Kampfrichter eine enorme Einflussmöglichkeit.
"Das größte Problem ist, dass das Regelwerk so kompliziert geworden ist, dass es extrem interpretierbar ist und eben damit auch manipulierbar für den Kampfrichter", sagte Joachim Wargalla der ARD: Er selbst könne heute in etwa 50 Prozent der Fälle nicht mehr sicher beurteilen, ob eine Entscheidung der Kampfrichter korrekt ist: "Das sagt eigentlich alles über die Intransparenz der Treffergebarung im Säbelfechten."
Wargalla fordert daher drastische Maßnahmen: "Solange das Säbelfechten in der Form manipulierbar ist, sollte es nicht im olympischen Programm weitergeführt werden."
In den USA hat der nationale Fechtverband bereits eine unabhängige Untersuchung eingeleitet. Weil es Auffälligkeiten gab in Gefechten von zwei Athleten, die sich in der Folge für Olympia qualifizierten, wurden beide Fechter vom Verband Ende vergangenen Jahres angeschrieben wegen "verdächtiger Schiedsrichter-Aktivitäten", die darauf hindeuteten, sie seien "bevorzugt behandelt" worden. Der Verband sei "im Besitz von Daten", aus denen der "Vorwurf der Manipulation des Sports" hervorgehe.
Hinweise auf Schiedsrichter-Manipulation im Fechten
Umstrittene Kampfrichter bei Olympia
In einem Schreiben an den Weltverband FIE teilten die Amerikaner ihren Verdacht mit, benannten konkret zwei internationale Schiedsrichter: den Bulgaren Wasil Milentschew und den Kasachen Jewgenij Dyaokokin. Sie sollen die amerikanischen Fechter Mitchell Saron und Tatiana Naslimow bevorteilt haben.
Der US-Verband beantragte, beide Kampfrichter vorerst nicht mehr für Gefechte zu nominieren, an denen amerikanische Fechter teilnehmen. Allerdings vergeblich. Beide waren auch in Paris im Einsatz. Auch die beiden womöglich bevorzugten Fechter durften bei Olympia antreten. Naslimow sagte der ARD in Paris: "Es kursierten viele Gerüchte über mich, aber es gab ein Schiedsverfahren vor dem amerikanischen Olympia-Komitee, und sie haben entschieden, dass die Vorwürfe nicht zutrafen. Und deshalb bin ich hier bei den Olympischen Spielen."
Die Fecht-Dynastie Naslimow
Ganz so einfach ist es nicht. Zumal die unabhängige Untersuchung mehrerer Rechtsanwalts- und Wirtschaftskanzleien zu den Vorwürfen in den USA noch läuft. Naslimow stammt aus einer russischen Fechterdynastie. Ihr Großvater Wladimir, ein ehemaliger Offizier der Roten Armee, gewann zwischen 1968 und 1980 drei Goldmedaillen im Säbelfechten. Ihr Vater Witali betreibt eine Fechtakademie in den USA, an der ihr Großvater Trainer ist.
Sein Kollege dort als Coach ist ein Aserbaidschaner namens Fikrat Walijew. Dieser Walijew aber ist gleichzeitig auch als internationaler Kampfrichter unterwegs, auch bei den Olympischen Spielen in Paris. Und in der Funktion hat er wiederholt in Gefechten an der Planche gestanden, an denen Fechter beteiligt waren, die der Akademiekollege Naslimow gecoacht hat.
So kursiert in der Fechtszene etwa ein Video mit einer extrem strittigen Entscheidung zugunsten der Fechterin Zaynab Dayibekowa bei einem Gefecht mit der Italienerin Irene Vecchi beim olympischen Qualifikations-Grand-Prix in Orléans, Frankreich, im vergangenen Dezember. Dayibekowa kommt aus Usbekistan, wo der Nationalverband Naslimow als Nationaltrainer geführt hat. Es ist zufällig auch das Land, in dem der suspendierte Welt-Fechtpräsident Usmanow geboren wurde und wo er großzügig spendet.
Die Usbekistan-Connection
Die Fechterin Dayibekowa hat auf ihrem Instagram-Profil ein Foto gepostet, auf dem zu sehen ist, wie Wladimir Naslimow seinen Arm um sie gelegt hat, als sie eine Medaille im vergangenen September zeigt. Jener Naslimow, mit dem der Schiedsrichter Walijew zusammen in einer Akademie arbeitet. Dabei besagen die Fechtregularien eindeutig, dass Kampfrichter nicht in Gefechten eingesetzt werden dürfen, bei denen solche Interessenskonflikte bestehen. Zumal in einer Olympia-Qualifikation.
"Das ganze System ist darauf ausgerichtet, bei Olympia zu betrügen, weil Olympia die einzige Veranstaltung im Fechten ist, die irgendwie weltweite Aufmerksamkeit findet", sagt der frühere deutsche Kampfrichter Schulz, "und darauf läuft alles zu. Und deswegen wird schon im Unterbau alles so manipuliert, dass dort so wenig wie möglich dem Zufall überlassen wird."
Hinweis: Das ursprünglich im beigefügten Video gezeigte Studiogespräch, das während der Olympischen Spiele in Paris im Live-Programm der ARD zu diesem Thema gesendet worden war, ist Gegenstand eines juristischen Verfahrens und wurde am 14. Oktober 2024 entfernt. Der Inhalt des Textes und des Beitragsvideos entspricht dem Stand der Erstveröffentlichung am 4. August.