Biathlon | Weltcupfinale Der leise laute Biathlon-Abschied des Erik Lesser

Stand: 20.03.2022 21:45 Uhr

Einer der schillerndsten Biathleten verlässt die Bühne, ein beliebter Sportler und vielleicht der größte Kritiker seiner Sportart. Nach zwölf Jahren zieht sich Erik Lesser aus dem Weltcup zurück. Es war ein Lebewohl in drei Akten, in Oslo, am Holmenkollen, unter königlicher Aufsicht.

Von Jonas Schützeberg (Oslo)

Die ausgestreckten Hände fingen ihn immer wieder auf, während seine Füße in den Himmel ragten  und er zufrieden lachte, während von der Tribüne die "Erik, Erik"-Rufe kein Ende nehmen wollten. Nun war es wirklich vorbei, der letzte Tanz war ausgetanzt. Das gesamte deutsche Team feierte Erik Lesser, mitten im großen Biathlonstadion.

"Biathlon-Renter? Das fühlt sich extrem gut an. Ich freue mich, später ins Hotel zu fahren und dann können mir alle mal den Buckel runterrutschen", sagte ein verschmitzt grinsender Lesser, bevor die geworfenen Schneebälle seiner Team-Kollegen das Interview unterbrachen.

Erster Akt: Der Interviewmarathon im Sprint am Freitag

Die finale Abschiedstournee begann bereits am Freitag. Längst war die Sonne hinter der Skisprungschanze, die das Stadion mit den Fantribünen einrahmt, versunken. In der Mixed-Zone lag mittlerweile Schatten. Die meisten Boxen der Fernseh-Anstalten waren leer, nur ein paar Journalisten warteten noch, denn ein letzter Athlet trottete fleißig und ohne Murren von Mikrofon zu Mikrofon.

"Es ehrt mich natürlich, anscheinend habe ich doch einen kleinen Fußabdruck in der Biathlon-Geschichte hinterlassen. Und besser als anders rum, wenn man durch die Mixed-Zone läuft und keiner fragt, dann ist es eher ein ´walk of shame´." Begleitet wurde Erik Lesser von einem kleinen Mann, der ihm nicht von der Seite weichen wollte - ein Chaperon, einer, der ihn zur Dopingkontrolle begleitet. Zufällig ausgelost wurde Lesser nach seinem fünften Platz im Sprint, auch das nahm er zum Abschied nochmal mit und lächelte es entspannt weg.

Der Biathlon-Zirkus verliert seinen größten Kritiker

Mit Lesser verliert der Biathlon-Sport vielleicht einen seiner größten Kritiker, viele Jahre war der zweimalige Weltmeister Athletensprecher im Weltverband. Lesser hat immer gesagt, was er dachte, zuletzt kritisierte der Thüringer die Olympischen Spiele von Peking oder nutze seine mediale Reichweite, um ein Zeichen im Ukraine-Krieg zu setzen.

"Mit Erik geht nicht nur ein großer Sportler, sondern auch ein Kritiker. Gern hat er den Finger bei brisanten Themen in die Wunde gelegt. Er ist sehr meinungsstark und das schätze ich an ihm", so beschreibt ihn sein bester Freund und Biathlon-Olympiasieger Arnd Peiffer.

Lesser übergab seinen Instagram-Account an ukrainische Sportlerinnen und Sportler, denn der 33-Jährige hat viele russische Fans, die reale und unzensierte Berichterstattung bekommen sollten. "Wir Sportler haben eine soziale Verantwortung. Im Biathlon gibt es mehr als vier Millionen Zuschauer in Deutschland, wir sind direkt am Ohr der Fans. Manchmal würde ich mir wünschen, dass mehr Sportler den Mund aufmachen." 

Zweiter Akt: Der Sieg im Verfolger am Samstag - nach sechs Jahren Pause

Er stand da, am Samstag, mit stolzer Brust, den einen Fuß locker gegen den anderen gelehnt. Smalltalk mit Norwegens König Harald, denn die Sieger am Holmenkollen bekommen eine Audienz, fast so als hätte er das schon öfter gemacht. Sechs Jahre war der letzte Weltcup-Sieg zuvor von Erik Lesser her.

Er hat es noch einmal getan, Sieg im Verfolgungsrennen mit Startnummer 5. Nummer 5? Moment - da war doch mal was. Bei den Biathlon-Weltmeisterschaften 2015 im finnischen Kontiolahti gewann Lesser mit eben dieser Nummer 5 den Titel im Verfolgungsrennen, später auch die Staffel der Männer.

Neben drei olympischen Medaillen waren es die wertvollsten Erfolge für den Thüringer: "Die WM in Kontiolahti war emotional schon ein besonderes Erlebnis vor allem mit der Staffel. Wir haben das Jahre lang vorbereitet, uns den Arsch aufgerissen, und endlich hat es geklappt. Diese Erleichterung im Team zu spüren, war einzigartig"

"Dass er da ist, bedeutet mir wirklich extrem viel"

Der Verfolger war das spannendste Rennen dieses Weltcup-Finales, offen bis zum letzten Schießen. "Gib alles oder enttäusche alle. Ich habe versucht, einfach mal die dicksten Eier zu haben. Fünf Treffer angesetzt und dann bin ich als Erster rausgegangen. Auf der Ziellinie habe ich gedacht, ich muss nur noch irgendwie die Arme hochkriegen, da war ich schon völlig breit."

Ein ganz besonderer Mensch hatte ihn mit zu diesem Sieg getrieben, Arnd Peiffer. Der Olympiasieger von 2018 war extra nach Oslo angereist, um die Abschieds-Show seines Kumpels nicht zu verpassen, und schrie Lesser die Anstiege hoch.

"Es war super cool, dass er da ist", erklärte Lesser später und dann wurde die Stimme des sonst so rationalen Lesser doch ein wenig zittrig. "Ich war bei seinem letzten Rennen dabei und er bei meinem. Wir sind dicke Freunde, und dass er da ist, bedeutet mir extrem viel."

Dritter Akt: Ein Massenstart mit Sektdusche und Holzmedaille

Die Tribüne war voll mit deutschen Fahnen und Lesser-Fanplakaten. Viele waren gekommen, zu diesem Frühlingstag Mitte März, bei neun Grad plus und strahlendem Sonnenschein am Holmenkollen. Vor fünf Monaten hatte seine letzte Reise begonnen, an diesem Sonntag ging die Karriere des Erik Lesser mit dem Massenstartrennen von Oslo zu Ende.

Er wollte kein großes Halli-Galli, lieber leise gehen, keine Verkleidung, kein Schnick-Schnack, sondern nochmals einen Wettkampf auf höchstem Niveau, hatte es Lesser immer wieder betont. "Ich konnte es nicht ganz so genießen, bin aber überglücklich mit Platz vier. Für Emotionen ist gerade noch nicht so richtig Platz, eher später im Vier-Augengespräch. Noch kommen keine Tränen, aber meine Nase wird schon schwerer."

"Der Kleine tritt dem Großen in den Arsch, darauf habe ich immer gestanden"

Dann sprühte der Sekt aus allen Ecken des Zielkorridors, Arme fielen um ihn herum, jeder wollte diesen besonderen Athleten zum Schluss noch einmal drücken. Auch ein sonst so kontrolliert wirkender Lesser bekam ein wenig feuchte Augen: "Eine Umarmung bedeutet immer eine spezielle Verbindung. Mit vielen Athleten bin ich wirklich lang unterwegs gewesen. Diesen respektvollen Umgang untereinander zu spüren, ist etwas ganz tolles."

"Vielen Dank und alles Gute", stand auf dem riesigen schwarzen Banner, mit dem die deutsche Mannschaft ihren künftigen Biathlon-Renter einwickelte. Erik Lesser hatte noch einmal gekämpft, bis auf die Ziellinie, ohne aufzustecken. Ein Sportler, der sich immer treu geblieben ist: "Der Kleine tritt dem Großen in den Arsch, mit viel Leidenschaft, darauf habe ich immer gestanden, deswegen bin ich auch Aue-Fan."

Das Ende einer goldenen Generation

Nach Arnd Peiffer und Simon Schempp in der vergangenen Saison geht mit Erik Lesser nun der Letzte der "alten" Generation, doch der 33-Jährige selbst sieht seinen Abgang als geringen Verlust: "Im Gesamt-Weltcup reiße ich keine Lücke, ich bin ja nur der dritte Deutsche. Die einzige Lücke, die ich hinterlasse, ist die Startposition in der Staffel und vielleicht ein wenig Erfahrung in der Mannschaft."

Er will mit der Familie nun erst einmal Urlaub machen und im Herbst seine zweite Karriere, die als Trainer beginnen. Auch wenn ihm das Team fehlen werde, wird er zwei Dinge bestimmt nicht vermissen: "Nicht den ersten Gedanken daran zu verschwenden, wenn ich irgendwo hinkomme, ob ich mich schon für die Dopingkontrolle angemeldet habe und bei schlechten Wetter aus dem Fenster schauen und einfach mal entscheiden, drinnen zu bleiben."

Und dann verließ Erik Lesser das Stadion, mit seiner Lebensgefährtin und der gemeinsamen Tochter, ohne viel Aufriss, eher leise, wie es zu ihm passt, unter dem lauten Trubel seiner Anhänger.